Landesarbeitsgericht Hamm

Urteil vom - Az: 11 SA 1252/14

Altersgrenze im Tarifvertrag ist unwirksam

(1.) Tarifvertragliche Altersgrenzenvereinbarungen, die das Ausscheiden des Arbeitnehmers vor Erreichen der Regelaltersgrenze vorsehen, sind keine Vereinbarung im Sinne des § 41 S. 2 SGB VI.

(2.) Solche Vereinbarung nehmen dem Arbeitnehmer die rentenrechtliche Wahlfreiheit bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze im Arbeitsverhältnis zu verbleiben und sind gemäß § 134 BGB unwirksam.

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Rheine vom 31.07.2014 – 4 Ca 509/14 – wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Im Rahmen einer arbeitgeberseitigen Feststellungsklage streiten die Parteien darüber, ob das Arbeitsverhältnis zu der beklagten Arbeitnehmerin aufgrund einer tariflichen Altersgrenzenregelung mit dem 31.03.2014 beendet worden ist.

Die Beklagte ist seit dem 01.03.2003 bei der Klägerin, einem Unternehmen im Bereich der Backwarenherstellung, beschäftigt. Die Beklagte ist anerkannte Schwerbehinderte. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft beidseitiger Tarifbindung die Tarifverträge für das Bäcker-Handwerk Nordrhein-Westfalen Anwendung.

§ 4 Ziff. 5 des Manteltarifvertrages für das Bäcker-Handwerk in NRW vom 01.01.2012 (fortan MTV Bäckerhandwerk) lautet wie folgt:

"Das Arbeitsverhältnis endet, ohne dass es einer Kündigung bedarf, mit Ende des Monats, in dem der Arbeitnehmer die Voraussetzungen für den Bezug einer ungekürzten Alters- oder vollen Erwerbsminderungsrente erreicht hat bzw. diese festgestellt wird. ... "

Die Beklagte ist 1951 geboren und kann - als Schwerbehinderte - mit dem 01.04.2014 abschlagsfrei in Rente gehen. Die Regelaltersgrenze erreicht die Klägerin unstreitig erst mit dem 31.07.2016 (§ 35 Satz 2 SGB VI).

Zur Problematik vereinbarter Altersgrenzen zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen verhält sich § 41 SGB VI:

"Der Anspruch des Versicherten auf eine Rente wegen Alters ist nicht als ein Grund anzusehen, der die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nach dem Kündigungsschutzgesetz bedingen kann. Eine Vereinbarung, die die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der Arbeitnehmer vor Erreichen der Regelaltersgrenze eine Rente wegen Alters beantragen kann, gilt dem Arbeitnehmer gegenüber als auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abgeschlossen, es sei denn, dass die Vereinbarung innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt bestätigt worden ist."

Die Klägerin hat gemeint, das Arbeitsverhältnis habe aufgrund der o.g. tariflichen Regelungen mit Ablauf des 31.03.2014 sein Ende gefunden, weil die Beklagte ab diesem Zeitpunkt abschlagsfreie Altersrente beziehen könne. Kollektivvertragliche Regelungen in Tarifverträgen fielen nicht unter den Geltungsbereich des § 41 SGB VI.

Die Klägerin hat beantragt,

festzustellen, dass zwischen den Parteien mit Ablauf des 31.03.2014 kein Arbeitsverhältnis mehr besteht.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat gemeint, unter Berücksichtigung der Regelungen des § 41 S. 2 SGB VI ende das Arbeitsverhältnis nicht aufgrund der Regelungen des § 4 Nr. 5 des Manteltarifvertrages für das Bäckerhandwerk mit dem 31.03.2014. Durch die Regelung in dem o. g. Tarifvertrag werde die dem Arbeitnehmer durch den Gesetzgeber eingeräumte Wahlmöglichkeit ausgehebelt. § 41 S. 2 SGB VI vermittele eine individuelle Rechtsposition, die nicht tarifdispositiv sei.

Die Feststellungsklage ist am 21.03.2014 bei dem Arbeitsgericht eingegangen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 31.07.2014 abgewiesen. Das Arbeitsverhältnis der Parteien habe nicht mit Ablauf des 31.03.2014 geendet. Zwar sei die tarifvertragliche Regelung keine "Vereinbarung" im Sinne von § 41 Satz 2 SGB VI. Entsprechend den Überlegungen des BAG zum § 41 Abs. 4 Satz 3 SGB VI damaliger Fassung (BAG 20.10.1993 - 7 AZR 135/93 -) sei die Regelung in § 4 Nr. 5 MTV Bäckerhandwerk jedoch gleichwohl gemäß § 134 BGB unwirksam, weil sie dem Arbeitnehmer in unzulässiger Weise das von der Regelung des § 41 Satz 2 SGB VI gewollte Wahlrecht nehme, bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze im Arbeitsverhältnis zu verbleiben.

Das Urteil ist der Klägerin am 18.08.2014 zugestellt worden. Die Klägerin hat am 04.09.2014 Berufung eingelegt und die Berufung am 15.10.2014 begründet.

Die Beklagte wendet ein, die Auffassung des Arbeitsgerichts sei rechtsirrig. § 41 SGB VI mache nur bei Individualvereinbarungen Sinn. Es könne nicht sein, dass bei einem anderen Verständnis ständig erneuerte tarifliche Vereinbarungen jeweils als Bestätigungen der vorgezogenen Altersgrenze im Sinne der Gesetzesbestimmung angesehen werden müssten. Bei einem solchen Verständnis könnten die Tarifvertragsparteien durch jeweils neue Vertragsschlüsse § 41 Satz 2 SGB VI für die Masse der Fälle ausschalten. Das Urteil des BAG aus 1993 verhalte sich zu einer heute nicht mehr in Kraft befindlichen Gesetzesfassung.

Die Klägerin beantragt,

Das Urteil des ArbG Rheine vom 31.07.2014 - 4 Ca 509/14 -, zugestellt am 18.08.2014, abzuändern und nach den Schlussanträgen der Klägerin in erster Instanz zu erkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts. Zutreffend habe das Arbeitsgericht die tarifvertragliche Regelung entsprechend den Grundsätzen des Urteils des BAG aus 1993 für unwirksam erachtet. Der Kerngehalt des § 41 SGB VI, das Wahlrecht des Arbeitnehmers, sei nach damaliger und heutiger Rechtslage unverändert erhalten geblieben.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung der Klägerin ist statthaft und zulässig und form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 8 Abs.2, 64 Abs. 1, Abs. 2, 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 ZPO).

II.

Die Berufung der Beklagten ist jedoch unbegründet. Die tarifvertragliche Regelung in § 4 Ziff. 5 des Manteltarifvertrages für das Bäcker-Handwerk in NRW vom 01.01.2012 (fortan MTV Bäckerhandwerk) hat aus den vom Arbeitsgericht zutreffend ausgeführten Gründen des § 41 Satz 2 SGB VI nicht zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Erreichen des 31.03.2014 geführt. Der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.03.2014 steht entgegen, dass die Beklagte zu diesem Zeitpunkt die für sie maßgebliche Regelaltersgrenze noch nicht erreicht hatte und sie einem vorzeitigen Ausscheiden nicht in den drei Jahren vor dem 31.03.2014 vertraglich zugestimmt hatte (Regelaltersgrenze für die Klägerin: 65 Jahre und 5 Monate = 31.07.2016, vgl. Tabelle ErfK-Rolfs, 15.Aufl. 2015, § 41 SGB VI Rn. 4).

Nach § 41 Satz 2 SGB VI gilt eine Vereinbarung, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers ohne Kündigung zu einem Zeitpunkt vorsieht, zu dem der Arbeitnehmer vor Erreichen der Regelaltersgrenze eine Rente wegen Alters beantragen kann, dem Arbeitnehmer gegenüber als auf das Erreichen der Regelaltersgrenze abgeschlossen, es sei denn, dass die Vereinbarung innerhalb der letzten drei Jahre vor diesem Zeitpunkt bestätigt worden ist.

1. Die Berufungskammer ist wie Arbeitsgericht und die ganz überwiegende Meinung der Auffassung, dass tarifvertragliche Vereinbarungen zu Altersgrenzen keine "Vereinbarung" im Sinne des § 41 Satz 2 SGB VI sind (so BAG 20.10.1993 - 7 AZR 135/93 - AP SGB VI § 41 Nr. 3 zur seinerzeitigen Gesetzesfassung; ErfK-Rolfs, aaO, § 41 SGB VI Rn 14; Wiedemann-Thüsing, TVG, 7. Aufl. 2007, § 1 TVG Rn. 653; Laux-Schlachter, TzBfG, 2. Aufl. 2011, § 23 TzBfG Anhang 2 Rn. 2; Kreikebohm-Spellbrink-Waltermann, Kommentar Sozialrecht, 3. Aufl. 2013, § 41 SGB VI Rn. 3 [Roßbach]; a.A. wohl Fichte in Hauck-Noftz, Sozialgesetzbuch, SGB VI, § 41 SGB VI Rn. 20 [andererseits aber: Rn. 21] - VIII/07 -).

2. Gleichwohl ist die Vereinbarung in § 4 Ziff. 5 MTV Bäckerhandwerk im Hinblick auf den Regelungsgehalt des § 41 Satz 2 SGB VI unwirksam, soweit sie zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor Erreichen der Regelaltersgrenze führt.

Normzweck des Kündigungsverbots in § 41 Satz 1 SGB VI und des Bestätigungsvorbehalts in § 41 Satz 2 SGB VI ist, dass der Arbeitnehmer die Freiheit haben soll, die Dauer seiner beruflichen Tätigkeit und damit die Art der Sicherung seines Lebensunterhalts im Alter selbst zu bestimmen und diese möglichst unbeeinflusst von arbeitsrechtlichen Vereinbarungen nutzen zu können, um möglichst lange zu arbeiten und damit das Verhältnis von Beitragszahlern und Rentnern im Interesse der Finanzierbarkeit der Rentenversicherung günstig zu beeinflussen (ErfK-Rolfs, aaO, § 41 SGB VI Rn. 1; Kreikebohm-Spellbrink-Waltermann, Kommentar Sozialrecht, 3. Aufl. 2013, § 41 SGB VI Rn. 1 [Roßbach])

Angesichts dieses Normzwecks ergibt sich die Unwirksamkeit der vorgezogenen Altersgrenze im Fall der Klägerin. Dies folgt aus den gleichen Gründen, die auch im Urteil des BAG vom 20.10.1993 zur Unwirksamkeit der dortigen tarifvertraglichen Regelung wegen Verstoßes gegen die damalige Gesetzeslage geführt haben (BAG 20.10.1993 - 7 AZR 135/93 - AP SGB VI § 41 Nr. 3; ebenso zur jetzigen Gesetzeslage: ArbG Hamburg 22.09.2009 - 21 Ca 352/08 - Rn. 73 unter Hinweis "ebenso ArbG Hamburg 06.07.2007 - 7 Ca 378/07 - "; Fichte, aaO, § 41 SGB VI Rn. 21; jurisPK-SGB VI-Freudenberg, 2. Aufl. 2013, § 41 SGB VI Rn. 31): Daraus, dass tarifvertragliche Vereinbarungen keine "Vereinbarung" im Sinne von § 41 Satz 2 SGB VI sind, kann nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass kollektivrechtliche Altersgrenzen ohne weiteres zulässig sind. Dem Gesetzeszweck widerspricht es, wenn sich Tarifverträge über die Entscheidungsfreiheit des einzelnen Arbeitnehmers hinwegsetzen und damit in erheblichen Teilbereichen die vom Gesetzgeber gewollten rentenrechtlichen Wahlmöglichkeiten von Arbeitnehmern verhindern. Die vom Gesetzgeber gewollte Entscheidungsfreiheit des Arbeitnehmers wird durch eine kollektivrechtliche Altersgrenzenvereinbarung nicht weniger beschnitten als durch eine individualrechtliche. Generelle tarifvertragliche Altersgrenzen tragen den jeweiligen Verhältnissen und Interessen des einzelnen Arbeitnehmers nicht Rechnung. Der Gesetzeszweck des § 41 Satz 2 SGB VI schließt kollektivrechtliche Vereinbarungen aus, die zur automatischen Beendigung des Arbeitsverhältnisses unter Außerachtlassung der rentenrechtlichen Wahlmöglichkeiten des Arbeitnehmers führen. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, § 41 Satz 2 SGB VI als tarifdispositiv anzusehen. Im Übrigen fehlt die in neueren Gesetzen übliche Tariföffnungsklausel. Der Verstoß gegen § 41 SGB VI führt dazu, dass die tarifvertragliche Altersregelung in § 4 Ziff. 5 MTV Bäckerhandwerk wegen Ausschaltens der rentenrechtlichen Wahlfreiheit des Arbeitnehmers nach § 134 BGB nichtig ist, soweit sie ein Ausscheiden des Arbeitnehmers vor Erreichen der Regelaltersgrenze vorsieht.

 (vgl. zum Vorstehenden BAG 20.10.1993 - 7 AZR 135/93 - AP SGB VI § 41 Nr. 3, insbesondere unter B I 3 Eingangssätze, B I 4 b, c und B III 2 c)

3. Gründe des § 17 TzBfG stehen der Zurückweisung der Berufung nicht entgegen. Durch die positive Feststellungsklage der klagenden Arbeitgeberin ist die zwischen den Parteien strittige Frage der beendigenden Wirkung der tarifvertraglichen Altersgrenzenregelung am 21.03.2014 und damit vor Ablauf der Klagefrist des § 17 TzBfG rechtshängig gemacht worden. Das ist ausreichend, auch wenn die Klage im vorliegenden Fall nicht vom Arbeitnehmer sondern vom Arbeitgeber erhoben worden ist ("Befristungsbestätigungsklage"). Streitgegenstand ist die Wirksamkeit der als Befristung zu qualifizierenden Altersgrenzenregelung.

III. Die mit ihrer Berufung unterlegene Klägerin hat gemäß § 97 ZPO die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, hat die Kammer gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen.



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