Landesarbeitsgericht Hessen

Urteil vom - Az: 9 Sa 1315/12

222.222.222,22 € nach Sekundenschlaf - Kündigung einer Bankangestellten

Im vorliegenden Fall hat eine Bankangestellte, welche seit über 26 Jahren bei derselben Bank angestellt ist, einen Überweisungsbeleg fahrlässigerweise freigegeben, ohne diesen vorher zu prüfen.
Das Besondere: Der Überweisungsbeleg enthielt den Betrag 222.222.222,22 € anstatt 62,40 €, welcher durch einen Sekundenschlaf eines Mitarbeiters zustande kam.
Sowohl die außerordentliche als auch die ordentliche Kündigung der Arbeitnehmerin waren jedoch unwirksam. Eine einmalige unvorsätzliche Pflichtverletzung rechtfertige noch keine Kündigung, so das LAG Hessen. Zur Vermeidung folgender Unvorsichtigkeiten wäre bereits eine Abmahnung ausreichend gewesen. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund der langen Beschäftigungsdauer der Arbeitnehmerin.
Auch sei kein Vertrauensbruch gegeben, da die Freigabe selbst nur eine Pflichtverletzung darstelle, aber keine Täuschung. Ein täuschendes Verhalten erfordere jedoch eine über die Pflichtverletzung hinausgehende Täuschungshandlung.
Auch der Auflösungsantrag des Arbeitgebers nach §9 I 2 KSchG blieb vor dem LAG Hessen erfolglos. Ein über den Kündigungsgrund hinausgehender Auflösungsgrund sei nicht vorgetragen.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 7. August 2012 - 4 Ca 2899/12 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten auch zweitinstanzlich um den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses.

Die bei Klageeinreichung 46-jährige Klägerin arbeitet seit 1986 bei der beklagten Bank, zuletzt als Sachbearbeiterin Zahlungsverkehr. Sie ist verheiratet und verdiente zuletzt monatlich rund EUR 12.000 brutto im Quartal. Zu ihren Aufgaben gehört u.a. die Überprüfung von Überweisungsbelegen und ggf. deren Korrektur. Den geprüften und ggf. korrigierten Zahlungsbeleg hat sie durch Drücken der Bestätigungstaste freizugeben. Weitere Aufgabe war, die vom externen Dienstleister zurück gegebenen Überweisungen per E-Mail an die entsprechenden Stellen in der Bank weiterzuleiten. Es handelte sich hierbei um rund 150 E-Mails täglich. Außerdem musste sie Telefongespräche wegen Klärungsbedarfs verschiedener Vorgänge führen. Die Beklagte stellte fest, dass die Klägerin am 2. April 2012 603 Belege jeweils in weniger als 1,4 Sekunden freigab, 105 Belege innerhalb von 1,5 bis drei Sekunden und nur für 104 Belege mehr als drei Sekunden aufwendete. Dass sie einen Zahlungsbeleg mit dem fehlerhaft ausgewiesenen Betrag von EUR 222.222.222,22 statt richtig EUR 62,40 ohne Prüfung freigab, hat sie in Gesprächen vom 3. und 4. April 2012 mit Bankmitarbeitern, am 4. April 2012 auch mit dem stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden, eingestanden. Der vor ihr mit Korrekturen - jedoch an sich nicht in dem Betragsfeld - befasste Sachbearbeiter A war bei einem Sekundenschlaf auf die Taste „2“ geraten und hielt diese gedrückt. Die versehentliche Falscheingabe wurde von ihm nicht korrigiert. Bei Beträgen von über EUR 100.000 erfolgt der Systemhinweis: „Betrag besonders prüfen“.

Die Beklagte hat unter dem 15. Okt. 2012 eine neue Dienstanweisung erlassen und neue Regelungen zur Risikominimierung bei Überweisungen bekannt gegeben, zu deren Inhalt auf Bl. 217 ff. und 219 ff. d. A. verwiesen wird.

Nach Anhörung des Betriebsrats mit Schreiben vom 14. April 2012 und 22. Mai 2012 zur beabsichtigten außerordentlichen fristlosen und ordentlichen fristgemäßen Kündigung, denen der Betriebsrat jeweils widersprach, erklärte die Beklagte der Klägerin gegenüber mit Schreiben vom 17. April 2012 die fristlose und mit Schreiben vom 31. Mai 2012 die ordentliche fristgemäße Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Gegen diese Kündigungen hat die Klägerin am 23. April 2012 und mit Klageerweiterung am 4. Juni 2012 jeweils Klage eingereicht.

Die Klägerin hat behauptet, sie hätte eine sehr erhebliche Arbeitsbelastung zu tragen gehabt. Sie hätte einen Fehler gemacht, aber dessen Gewicht sei dadurch begrenzt, dass die Beklagte Sicherungssysteme hätte, damit solche Fehler nicht zu relevanten Fehlern führten. Sie ist der Ansicht gewesen, der Ausspruch einer Abmahnung wäre insoweit angemessen gewesen, und sie hat gerügt, es habe keine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung stattgefunden.

Die Klägerin hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die von der Beklagten mit Schreiben vom 17. April 2012 ausgesprochene außerordentliche Kündigung aufgelöst worden ist;

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien auch nicht durch die von der Beklagten mit Schreiben vom 31. Mai 2012 ausgesprochene ordentliche Kündigung aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat behauptet, die Klägerin habe sie vorsätzlich über die von ihr zu erbringende Arbeitsleistung getäuscht, indem sie die Belege nicht geprüft, sondern ohne Prüfung freigegeben habe. Durch ihr Verhalten habe sie es in Kauf genommen, den Bestand der Bank zu gefährden. Das Vertrauen sei unwiederbringlich zerstört. Die Beklagte habe Glück gehabt, dass vor dem automatischen Ausführungsdatum am Folgetag um 14.00 Uhr die Ausführung der Überweisung durch die Abteilung Disposition zurückgenommen worden sei. Weitere verpflichtende Sicherungssysteme, ohne deren Freigabe eine Überweisung nicht zur Ausführung gelangen könne, existierten bei ihr nicht. Eine Arbeitsüberlastung der Klägerin sei nicht gegeben gewesen.

Wegen des weiteren erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien, des vom Arbeitsgericht festgestellten Sachverhalts und des arbeitsgerichtlichen Verfahrens wird auf den Tatbestand der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main hat den Klageanträgen durch Urteil vom 7. Aug. 2012 - 4 Ca 2899/12 - stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, es gebe keine Anhaltspunkte, dass die Klägerin vorsätzlich gehandelt und es bewusst in Kauf genommen habe, die Beklagte zu schädigen. Sie habe in einem Fall eine Unrichtigkeit übersehen. Sie sei temporär nachlässig und unkonzentriert gewesen, ihr Fehlverhalten berühre aber nicht den Vertrauensbereich. Die potenziellen Folgen hätten im Übrigen auf einem Vorfehler beruht, der so schon nicht hätte unterlaufen dürfen. Außerdem sei der Folgefehler im Ergebnis folgenlos geblieben. Eine negative Verhaltensprognose bestünde angesichts des fahrlässig unterlaufenen Fehlers nicht. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die arbeitsgerichtlichen Entscheidungsgründe Bezug genommen.

Gegen das ihr am 20. Sept. 2012 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 26. Sept. 2012 Berufung eingelegt und diese am 30. Okt. 2012 begründet.

Die Beklagte rügt zunächst die arbeitsgerichtliche Sachverhaltsfeststellung. Dass es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Klägerin vorsätzlich gehandelt habe, sie vielmehr fahrlässig gehandelt habe, widerspreche ihrem Sachvortrag. Dass der Vorfehler die Klägerin entlaste, entspreche nicht den tatsächlichen Gegebenheiten und sei ein Denkfehler. Die Kontrolle wäre überflüssig, wenn keine Vorfehler aufträten. Ihre Aufgabe sei es gerade gewesen, solche Bearbeitungsfehler zu entdecken. Die vom KWG vorgeschriebene Kontrolltätigkeit sei Aufgabe der Klägerin gewesen und von zentraler Bedeutung. Weitere Sicherungssysteme gebe es bei ihr nicht. Wie lange die durchschnittliche Prüfdauer sei, sei irrelevant, da die Klägerin unstreitig zumindest 75 % der Überweisungen ohne Prüfung freigegeben habe. Die Beklagte verweist auf ihren Vortrag im Schriftsatz vom 2. Aug. 2012, wonach die Klägerin in den Gesprächen vom 3. und 4. April eingeräumt habe, dass sie den streitgegenständlichen Beleg vorsätzlich nicht geprüft habe. Die Bearbeitungszeit von jeweils 1,4 Sekunden für 75 % der Belege reiche gerade aus, um ohne jegliche Prüfung die Freigabetaste zu drücken. Dies sei vorsätzliches Handeln. Nach den durchgeführten Stichproben sei der Arbeitsaufwand der Klägerin stets entsprechend gewesen. Sie habe für durchschnittlich 900 Belege pro Arbeitstag jeweils rund 45 Minuten gebraucht. Bei rund 75 % der Belege habe die Bearbeitungsdauer unter 1,5 Sekunden betragen (Beweis: Zeugnis B). Damit stehe fest, dass sie durchgängig bei ¾ der Überweisungsaufträge keine Prüfung durchgeführt habe. Mit der Freigabe ohne Prüfung habe sie über ihre Aufgabenerfüllung getäuscht. Die Überweisung sei nur durch einen aufmerksamen Disponenten gestoppt worden. Bei einem Ausfall von über EUR Mio. 200 hätte sie ihr Geschäft deutlich einschränken und Leute entlassen müssen. Wegen ihrer weiteren Aufgaben habe die Klägerin lediglich auf die Darstellung des Betriebsrats verwiesen, wonach sie mit einem Aufwand von einer Stunde und 19 Minuten 79 E-Mails verschickt und diverse Telefongespräche geführt habe. Daneben blieben mindestens vier bis fünf Stunden für die Kontrollen. Von einer Arbeitsüberlastung der Klägerin könne keine Rede sein. Immerhin habe die Klägerin eine Verantwortungszulage erhalten. Nicht korrigierte oder kontrollierte Belege würden an die C weiter gegeben.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Frankfurt vom 7. Aug. 2012 - 4 Ca 2899/12 -

1. die Klage abzuweisen;

2. hilfsweise zum Klageabweisungsantrag bezüglich der Klage gegen die ordentliche Kündigung, das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung aufzulösen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und ist der Ansicht, ohne Abmahnung sei keine der Kündigungen zu rechtfertigen. Der Bericht der Innenrevision zeige die Entstehung des Fehlers auf. Der Mitarbeiter A hätte in dem Betragsfeld überhaupt nichts zu suchen gehabt. Weshalb er diesen Zugang gehabt hätte, sei auch der Innenrevision unverständlich. Die Richtigkeit der von der Beklagten vorgelegten Auswertung könne sie nur mit Nichtwissen bestreiten. Sie habe niemals in ihrem Leben eine Prüfung vorsätzlich nicht durchgeführt, dies habe sie gegenüber der Beklagten auch nicht behauptet. Bei der Beklagten würden zur Sicherung auch Dispositionslisten geführt. Übersteige der Überweisungsbetrag das Guthaben des Kunden bzw. die ihm eingeräumte Kreditlinie, erhalte der für ihn zuständige Kundenbetreuer hierüber eine Nachricht am Tag nach Eingang des Überweisungsauftrags. Der Kundenbetreuer habe dann zu entscheiden, ob die Überweisung trotz fehlender Deckung ausgeführt werde oder nicht. Eine Verantwortungszulage habe sie nicht bekommen. Sie bekomme seit dem 1. Jan. 1992 eine Qualifikationszulage und eine Springerzulage. Die Art der Kontrolle, bei der der Klägerin am 2. April 2012 ein Fehler unterlaufen sei, bestehe erst seit Februar 2012. Der Betriebsrat sei zu den der Klägerin gegenüber erhobenen Vorwürfen nicht in der gesetzlich gebotenen Weise angehört worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der Berufungsschriftsätze und den Inhalt der Sitzungsniederschrift vom 7. Febr. 2013 verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten ist statthaft, §§ 8 Abs. 2 ArbGG, 511 Abs. 1 ZPO, 64 Abs. 2 c) ArbGG, und auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1 ArbGG, 517, 519, 520 ZPO, und damit insgesamt zulässig.

Die Berufung der Beklagten, durch die sowohl die fristlose als auch die fristgemäße Kündigung sowie der zweitinstanzliche Auflösungsantrag der Beklagten Gegenstand des Berufungsrechtszuges sind, ist nicht begründet.

1. Die gegen die außerordentliche fristlose Kündigung gerichtete Kündigungsschutzklage der Klägerin ist begründet. Ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung gemäß § 626 Abs. 1 BGB, der es der Beklagten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und Abwägung der beiderseitigen Interessen unzumutbar gemacht hätte, das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen, stand dieser nicht zur Seite. Eine schwere, insbesondere schuldhafte Vertragspflichtverletzung kann eine außerordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses aus wichtigem Grund an sich rechtfertigen. Dabei kann ein wichtiger Grund in einer erheblichen Verletzung der vertraglichen Hauptleistungspflichten liegen.

a) Eine grobe Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten liegt in der Regel vor bei einer vorsätzlichen Schädigung des Arbeitgebers und bewusster Schlechtleistung, z.B. durch Herbeiführung von Ausschuss und dessen Belassen in der Produktion statt Aussonderung wie in dem vom Hessischen Landesarbeitsgericht mit Urteil vom 17. Sept. 2012 (- 17 Sa 150/12 - Juris (2 AZN 2526/12)) entschiedenen Fall, in welchem der Mitarbeiter eines Pharmaunternehmens eine Infusionslösung gezielt verunreinigt hatte.  Hier war die erhebliche arbeitsvertragliche Pflichtverletzung darin zu sehen, dass der Arbeitnehmer bewusst in den Produktionsprozess eingegriffen und das manipulierte Produkt danach wieder in den Produktionsgang gegeben hatte. Ein gleichgelagertes Fehlverhalten ist im Streitfall jedoch nicht gegeben. Schlechtleistungen und unzureichende Arbeitsleistungen eines Arbeitnehmers rechtfertigen eine außerordentliche Kündigung grundsätzlich nicht (ebenso LAG Düsseldorf Urteil vom 25. Nov. 2009 - 12 Sa 879/09 - Juris).

b) Im Streitfall liegt keine derartige vorsätzliche Schädigung des Arbeitgebers oder vorsätzliche Manipulation des Arbeitsablaufs vor. Als Kündigungsgrund zu beurteilen ist der Arbeitsfehler der Klägerin, am 2. April 2012 die pflichtgemäße Kontrolle des Überweisungsformulars des Kunden D vom 30. März 2012 (Bl. 49 d. A.) unterlassen zu haben. Nach dem Revisionsbericht vom 12. April 2012 (Bl. 45 ff. d. A.) wurde für den fraglichen Überweisungsbeleg am 2. April 2012 um 9.46 h für verschiedene Felder ein Korrekturbedarf gesehen, nicht jedoch für das Betragsfeld. Um 9.51 h nahm der Mitarbeiter A die Feldkorrektur „Numerische Felder“ vor und zwar bezüglich Empfänger-BLZ und Empfängerkonto. Um 9.55 Uhr überprüfte die Mitarbeiterin E das Betragsfeld, das korrekt auf EUR 62,40 lautete. Um 15.18 Uhr nahm der Mitarbeiter A eine Dokumentenkorrektur vor. Dabei wurden von ihm falsche Angaben beim Empfängernamen und Betrag (EUR 22.222.222.222,22) vorgenommen und das Feld „Verwendungszweck“ nur teilweise korrigiert. Im Revisionsbericht auf Seite 2 im letzten Absatz heißt es nochmals, dass kein Anpassungsbedarf für das Betragsfeld gegeben gewesen sei. Die vom Betriebsrat in seiner Stellungnahme angedeutete Erkrankung des Mitarbeiters A ist in den Schriftsätzen der Parteien nicht konkretisiert worden, auch nicht, ob die Beklagte insoweit irgendwelche Konsequenzen gezogen hat, aber objektiv kann den Mitarbeiter nicht nur ein Sekundenschlaf übermannt haben.

c) Die Prüfung des Kündigungsgrundes hat sich auf die unterlassene Kontrolle dieser Überweisung zu beschränken. Weitere Gründe nachzuschieben ist der Beklagten betriebsverfassungsrechtlich verwehrt. Die Kündigung verstößt, wie schon das Arbeitsgericht zutreffend erkannt hat, zwar nicht gegen § 102 BetrVG. Auf die mehrseitige Anhörung vom 12. April 2012 (Bl. 40 ff. d. A.) wird Bezug genommen. Dort werden sämtliche persönliche Daten, die beabsichtigte Kündigung und im Anhang A und in der Aktennotiz der Innenrevision vom 12. April 2012 nebst Anlagen der Kündigungssachverhalt mitgeteilt. An die Mitteilungspflicht des Arbeitgebers im Anhörungsverfahren sind nicht dieselben Anforderungen zu stellen, wie an die Darlegungslast im Kündigungsschutzprozess. Es gilt der Grundsatz der sogenannten "subjektiven Determination", demzufolge der Betriebsrat immer dann ordnungsgemäß angehört worden ist, wenn der Arbeitgeber ihm die aus seiner Sicht tragenden Umstände unterbreitet hat (BAG Urteil vom 27. Febr. 1997 - 2 AZR 302/96 - EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 51; BAG Urteil vom 22. Sept. 1994 - 2 AZR 31/94 - AP Nr. 68 zu § 102 BetrVG 1972). Der Arbeitgeber hat die von ihm für maßgeblich erachteten Kündigungsgründe bei der Anhörung so zu umschreiben, dass der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe prüfen und sich über seine Stellungnahme schlüssig werden kann (BAG a.a.O.; außerdem BAG Urteil 15. Nov. 1995 - 2 AZR 974/94 - AP Nr. 73 zu § 102 BetrVG 1972). Die Beklagte hat dem Betriebsrat mit dem Anhang A zur Anhörung vom 12. April 2012 (Bl. 42 ff. d. A.) mitgeteilt, die Klägerin hätte am 2. April 2012 die fragliche Überweisung ohne Kontrolle freigegeben. Auch in der Wiedergabe der Gespräche vom 3. und 4. April 2012 ist nur von dieser Überweisung die Rede, desgleichen in der Darstellung der „Kündigungsgründe im Einzelnen:...“ auf Seite 2 und 3 dieser Anhörung. Der Revisionsbericht (Anlage B) befasst sich ebenfalls nur mit der Kontrolle dieser Überweisung.

Mit Schriftsatz vom 25. Juni 2012, Seite 3 ff. (Bl. 76 ff. d. A.) hat die Beklagte darüber hinaus unter Bezugnahme auf die Auswertung der C für den 2. April 2012 (Bl. 80 ff. d. A.) ergänzend vorgetragen, die Klägerin hätte 861 Belege in einer Gesamtbearbeitungszeit von 45 Minuten geprüft, davon 603 Belege in einer Bearbeitungszeit bis 1,4 Sekunden, 154 Belege in einer Bearbeitungszeit bis 3,0 Sekunden und 104 Belege jeweils in 3,1 und mehr Sekunden. Damit habe sie bei 603 Belegen keinerlei Prüfungen durchgeführt. Sie habe damit vorsätzlich über die von ihr zu erbringende Arbeitsleistung getäuscht. Bei durchgeführten Stichproben hätte sich herausgestellt, dass der Arbeitsumfang der Klägerin stets entsprechend gewesen sei. Sie hätte im Schnitt 900 Belege pro Arbeitstag zu kontrollieren gehabt. Bei rund 75 % der Belege hätte die Bearbeitungszeit unter 1,5 Sekunden gelegen.

Der Arbeitgeber kann solche Kündigungsgründe, die ihm im Zeitpunkt der Unterrichtung des Betriebsrats bereits bekannt waren, die er aber dem Betriebsrat nicht mitgeteilt hatte, im Prozess nicht nachschieben (BAG a.a.O.), und wenn die Gründe ihm später bekannt werden, hat er vor Einführung in den Prozess den Betriebsrat dazu anzuhören (BAG Urteil vom 11. April 1985 - 2 AZR 239/84 - EzA § 102 BetrVG 1972 Nr. 62; Hess. LAG Urteil vom 10. Juli 2006 - 19/3 Sa 1353/05 - Juris). Um kein Nachschieben von Kündigungsgründen handelt es sich zwar, wenn der Arbeitgeber die dem Betriebsrat mitgeteilten Kündigungsgründe im Prozess nur weiter erläutert und konkretisiert, ohne dass dies den Kündigungssachverhalt wesentlich verändert. Um eine bloße Erläuterung und Konkretisierung des dem Betriebsrat mitgeteilten Kündigungsgrundes handelt es sich hier jedoch nicht. Dem Betriebsrat wurde ein erhebliches Fehlverhalten im Zusammenhang mit dem Überweisungsbeleg D vom 30. März 2012, also in einem Fall, mitgeteilt. Es ist indessen ein völlig anderer Sachverhalt mit deutlich größerer Tragweite, ob dem Arbeitnehmer ein Fehlverhalten an einem Tag in 603 oder 708 Fällen oder gar über einen längeren Zeitraum vorgeworfen wird. Der Vorwurf eines Fehlverhaltens in 603 oder 708 Fällen an einem Tag oder über einen längeren Zeitraum ist keine Erläuterung eines vorgeworfenen Fehlverhaltens in einem Einzelfall. Im einen Fall ist es ein einmaliges Versagen, in Hunderten von Fällen noch dazu über einen längeren Zeitraum kann von einem durchgängigen Verhaltensmuster gesprochen werden.

d) Es besteht keine hinreichend negative Verhaltensprognose (vgl. BAG Urteil vom 10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 - § 626 BGB 2002 Nr. 32; BAG Urteil vom 26. Nov. 2009 - 2 AZR 751/08 - EzA § 611 BGB 2002 Abmahnung Nr. 5; BAG Urteil vom 13. 12.2007 - 2 AZR 818/06 - EzA § 4 n.F. KSchG Nr. 82; BAG Urteil vom 31. Mai 2007 - 2 AZR 200/06 - Juris; BAG Urteil vom 24. Juni 2004 - 2 AZR 63/03 - EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 65). Der Zweck der Kündigung ist nicht eine Sanktion für eine begangene Vertragspflichtverletzung, sondern die Vermeidung des Risikos weiterer erheblicher Pflichtverletzungen. Die vergangene Pflichtverletzung muss sich deshalb noch in der Zukunft belastend auswirken. Eine negative Prognose liegt vor, wenn aus der konkreten Vertragspflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde zukünftig den Arbeitsvertrag erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen. Normalerweise ergibt sich dies aus weiteren Vertragsverletzungen nach einer oder mehreren Abmahnungen, einer Abmahnung bedarf es jedoch dann nicht, wenn es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (BAG Urteil vom 9. Juni 2011 - 2 AZR 381/10 - EzA § 626 BGB 2002 Nr. 35).

Das einmalige Versagen der Klägerin bei der Kontrolle der Überweisung D vom 30. März 2012 ist zwar ein schwerer Arbeitsfehler. Beruht jedoch die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten der Arbeitnehmerin, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ihr künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann (BAG Urteil vom 9. Juni 2011 - 2 AZR 381/10 - a.a.O.). Nur wenn erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten ist oder es sich um eine so schwerwiegende Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar ist, ist eine Abmahnung entbehrlich. Um eine derart schwerwiegende Pflichtverletzung handelt es sich hier nicht. Die Klägerin hat die Überweisung D vom 30. März 2012 faktisch ungeprüft freigegeben, denn die Bearbeitungszeit von 1,4 Sekunden reichte nicht aus, die Belegmaske zu prüfen. Dieses Versagen macht aber insbesondere nach einer Beschäftigungsdauer der Klägerin von etwa 26 Jahren der Beklagten die mildere Reaktionsmöglichkeit einer Abmahnung nicht unzumutbar.

Dies ist auch keine eine Abmahnung grundsätzlich entbehrlich machende Vertragsverletzung im Vertrauensbereich, denn einem Arbeitnehmer, der vertragswidrig seine arbeitsvertraglichen Pflichten teilweise nicht erfüllt, ist eine Schlechtleistung, aber kein betrügerisches Handeln vorzuwerfen, es sei denn, er täuscht über die Einhaltung der vertraglich geschuldeten Arbeitszeit durch Manipulationen an der Stechuhr oder er führt wie im Fall des BAG im Urteil vom 9. Juni 2011 - 2 AZR 381/10 - (a.a.O.) über fast zwei Jahre überhaupt keine Prüfungen mehr durch und täuscht aktiv und systematisch durch die Unterzeichnung von mit Behördenstempel versehenen Protokollen als Prüfender darüber, seine Pflichten wahrgenommen zu haben. Damit ist das Fehlverhalten der Klägerin, bei der Überweisung D vom 30. März 2012 die Freigabetaste gedrückt zu haben, nicht vergleichbar. Das Drücken der Freigabetaste ohne Kontrolle ist die Vertragsverletzung selbst, aber daraus kann nicht zugleich eine aktive Täuschung konstruiert werden. Dabei kommt es hinsichtlich der Zerstörung des Vertrauens nicht auf den subjektiven Standpunkt des Arbeitgebers an, sondern es ist ein objektiver Maßstab anzulegen (LAG Düsseldorf a.a.O.).

2. a) Die Berufung ist auch nicht begründet, soweit sie gegen die Stattgabe der gegen die ordentliche fristgemäße Kündigung vom 22. Mai 2012 gerichteten Klage eingelegt worden ist. Die Begründetheit einer verhaltensbedingten Kündigung im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG verlangt Gründe, die bei verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen lassen (BAG Urteil vom 17. Jan. 2008 - 2 AZR 536/06 - EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 72; BAG Urteil vom 13. Dez. 2007 - 2 AZR 818/06 - EzA § 4 n.F. KSchG Nr. 82; BAG Urteil vom 12. Jan. 2006 - 2 AZR 21/05 - EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 67; BAG Urteil vom 24. Juni 2004 - 2 AZR 63/03 - EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 65; BAG Urteil vom 11. Dez. 2003 - 2 AZR 667/02 - § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 62; BAG Urteil vom 17. Juni 2003 - 2 AZR 62/02 - EzA § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 59). Erforderlich ist, dass das dem Arbeitnehmer vorgeworfene Verhalten eine schuldhafte Vertragsverletzung darstellt, die das Arbeitsverhältnis konkret beeinträchtigt, und dass keine zumutbare Möglichkeit anderweitiger Beschäftigung besteht, eine negative Prognose gegeben ist und die Lösung des Arbeitsverhältnisses in Abwägung der beiderseitigen Interessen als billigenswert und angemessen erscheint.

b) Auch im Hinblick auf die ordentliche Kündigung ist die Prüfung des Kündigungsgrundes auf die unterlassene Kontrolle der fraglichen einen Überweisung beschränkt. Die schriftliche Anhörung des Betriebsrats vom 22. Mai 2012 (Bl. 144 ff. d. A.) verweist wiederum auf die Anlagen A, B und C. In der Anlage A wird der Grund für die beabsichtigte ordentliche Kündigung erläutert. Auch insoweit beschränkt sich der Vorwurf auf die Überweisung D vom 30. März 2012. Weitere Vorwürfe werden auch hier nicht genannt. Die pauschale Behauptung der Beklagten im Schriftsatz vom 6. Aug. 2012 auf Seite 2 (Bl. 142 d. A.), es seien die Sachverhalte ausführlich erörtert und sämtliche Fragen des Betriebsrats beantwortet worden, lässt ebenfalls nicht erkennen, dass diese Erörterung über den schriftlich mitgeteilten Kündigungssachverhalt hinausgegangen sei. Dieses unsubstanziierte Vorbringen ist einem konkreteren Bestreiten der Betriebsratsanhörung als im Schriftsatz der Klägerin vom 1. Juni 2012 (Bl. 63 d. A.) geschehen, nicht zugänglich.

c) Auch insoweit ist der Beklagten der Ausspruch einer Anmahnung zumutbar gewesen. Auf die Ausführungen zur fristlosen Kündigung wird vollinhaltlich Bezug genommen.

3. Die Berufung ist auch insoweit unbegründet, als die Beklagte in der Berufungsverhandlung im Zusammenhang mit der ordentlichen Kündigung einen hilfsweisen Auflösungsantrag gestellt hat. Es kann nicht festgestellt werden, dass eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Parteien nicht mehr erwartet werden kann. Nach der Grundkonzeption des Kündigungsschutzgesetzes führt eine Sozialwidrigkeit der Kündigung zu deren Rechtsunwirksamkeit und zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses. Das Kündigungsschutzgesetz ist vorrangig ein Bestandsschutz- und kein Abfindungsgesetz (BAG Urteil vom 23. Juni 2005 - 2 AZR 256/04 - EzA § 9 n.F KSchG Nr. 52 mit weiteren Nachw.). Dieser Grundsatz wird durch § 9 KSchG unter der Voraussetzung durchbrochen, dass - bezogen auf den Auflösungsantrag des Arbeitgebers - eine Vertrauensgrundlage für eine sinnvolle Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr besteht (BAG a.a.O.). Da hiernach eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses nur ausnahmsweise in Betracht kommt, sind an die Auflösungsgründe strenge Anforderungen zu stellen (BAG a.a.O.). Als Auflösungsgründe für den Arbeitgeber gem. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG kommen solche Umstände in Betracht, die das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, die Wertung seiner Persönlichkeit, seiner Leistung oder seiner Eignung für die ihm gestellten Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen (BAG a.a.O.). Die Beklagte hat nicht vorgetragen, worauf sie den Auflösungsantrag stützt. Da nicht festgestellt werden kann, dass es während des Kündigungsschutzprozesses zu zusätzlichen Spannungen zwischen den Parteien gekommen ist, die eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sinnlos erscheinen lassen, kann zu Gunsten der Beklagten nur angenommen werden, dass es der Kündigungssachverhalt selbst sein soll. Grundsätzlich kann der Auflösungsantrag jedoch regelmäßig nicht allein mit dem Sachverhalt begründet werden, mit dem der Arbeitgeber die Kündigung begründet (BAG a.a.O.). Der Anlass, der zur Kündigung geführt hat, kann die schlechte Prognose für eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit allerdings verstärken. Die Kündigungsgründe sind insoweit zu berücksichtigen und können geeignet sein, den sonstigen Auflösungsgründen besonderes Gewicht zu verleihen (BAG a.a.O.). Aus dem Kündigungssachverhalt lässt sich jedoch angesichts der zu verneinenden Negativprognose hier kein Auflösungsgrund ableiten. Im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag ist zu fragen, ob auf Grund des Verhaltens des Arbeitnehmers in der Vergangenheit in Zukunft noch mit einer den Betriebszwecken dienenden weiteren Zusammenarbeit der Parteien zu rechnen ist (BAG a.a.O.). Es gab weder Beleidigungen, sonstige ehrverletzende Äußerungen noch persönliche Angriffe des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, Vorgesetzte oder Kollegen. Die objektive Lage beim Schluss der Berufungsverhandlung lässt nicht die Besorgnis aufkommen, die weitere Zusammenarbeit mit dem Arbeitnehmer sei gefährdet. Ein irreparabler Vertrauensverlust wurde ebenfalls verneint. Die Klägerin hat ihr Fehlverhalten in den Gesprächen vom 3. und 4. April 2012 eingeräumt und auch im Prozess nicht in Abrede gestellt. Sie hat zu ihrer Verteidigung im Grunde lediglich auf die streitige Arbeitsbelastung und das ihrer Auffassung nach gegebene Abmahnerfordernis abgestellt. Es wurde ausgeführt, dass der Beklagten der Ausspruch einer Abmahnung als mildere Sanktionsmöglichkeit nicht unzumutbar ist. Diese Prognose für das Arbeitsverhältnis steht der Annahme eines Auflösungsgrundes deutlich entgegen.

4. Die Kosten ihrer erfolglosen Berufung trägt die Beklagte gemäß § 97 Abs. 1 ZPO.

5. Für die Zulassung der Revision besteht keine gesetzlich begründete Veranlassung, § 72 Abs. 2 ArbGG. Die entscheidungserheblichen Rechtsfragen sind höchstrichterlich geklärt. Das Berufungsgericht ist dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung durchgängig gefolgt.



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