Landesarbeitsgericht Hamburg

Urteil vom - Az: 5 Sa 19/16

Fristlose Kündigung wegen beharrlichem Ansammeln von Minusstunden

Das beharrliche Überschreiten der zulässigen Zahl von Minusstunden kann ein wichtiger Grund an sich für eine fristlose Kündigung eines ordentlich nicht mehr kündbaren Angestellten sein. Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses wird dann auch im Rahmen der Interessenabwägung nicht mehr verhindert, wenn sich dieser Vertragsverstoß als Glied in einer Reihe weiterer Vertragsverstöße darstellt und Abmahnungen vorliegen, die Verstöße gegen Arbeitszeitbestimmungen rügen.
(Leitsatz des Gerichts)

Im vorliegenden Fall baute der Kläger fortlaufend mehr Minusstunden auf, obwohl die Beklagte mehrfach Gespräche zwecks eines Abbaus mit dem Kläger führte. Der Kläger versicherte etwa im April und Mai 2014 seine Minusstunden abzubauen. Dennoch erhöhten sich seine Minusstunden von Ende März bis Ende Mai von -22 auf - 55 Stunden. Die einschlägige Dienstvereinbarung sieht eine Höchstanzahl von -20 Stunden vor, welche nur kurzfristig überschritten werden darf. Dieses Verhalten rechtfertigt nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts eine sofortige Kündigung. Einer Abmahnung habe es nicht bedurft, weil dem Kläger bereits in der Vergangenheit Abmahnungen im Zusammenhang mit Arbeitszeitverstößen erteilt worden waren (Arbeitszeitbetrug durch Krankmeldung und folgendes Fußballspielen; verspätete Arbeitsaufnahme; ...).

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 20.1.2016 -16 Ca 307/15 - abgeändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses und Weiterbeschäftigung.

Der am ... 1974 geborene, ledige Kläger war bei der Beklagten seit dem 13.3.1993 als Angestellter beschäftigt, zuletzt zu einem monatlichen Bruttoentgelt von € 3.016,36 bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 39 Stunden. Der Kläger ist ausgebildeter Verwaltungsangestellter und war zuletzt – u.a. nach Einsatz im Hundekontrolldienst - als Sachbearbeiter für Sondernutzungen eingesetzt. Nach dem auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifvertrag für die Länder, § 34 Abs. 2 TV-L, kann das Arbeitsverhältnis durch den Arbeitgeber nur noch aus einem wichtigen Grund gekündigt werden.

Mit Schreiben vom 29.6.2015, dem Kläger zugegangen am selben Tag, sprach die Beklagte eine außerordentliche fristlose, hilfsweise außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist zum 31.12.2015 aus (Anlage K 1, Blatt 5-9 der Akte).

Gegen diese Kündigung hat der Kläger Kündigungsschutzklage erhoben, die beim Gericht am 9.7.2015 eingegangen und der Beklagten am 21.7.2015 zugestellt worden ist.

Die Beklagte stützt die Kündigung darauf, dass der Kläger wiederholt gegen seine arbeitsvertragliche Pflicht zur Einhaltung der Arbeitszeit verstoßen habe. Der Kündigungsgrund, der Kläger habe einen unfrankierten Privatbrief in die Dienstpost gegeben, wird in der Berufungsinstanz nicht aufrechterhalten.

Auf das Arbeitsverhältnis findet die Dienstvereinbarung über die Arbeitszeit und Dienstzeit des Bezirksamts Hamburg–1 vom 31.5.2013 Anwendung (Anlage B1, Blatt 34-40 der Akte). Auf Ziff. 2.4 der Dienstvereinbarung wird verwiesen (Anlage B1, Blatt 38-39 der Akte).

Am 30.5.2015 wies das Arbeitszeitkonto des Klägers einen Zeitsaldo von 55,9 Minusstunden auf.

Dem war Folgendes vorausgegangen:

Am 6.11.2007 erhielt der Kläger eine Abmahnung wegen Nutzung dienstlicher Zeit für andere Belange. 2 Stunden wurden von seinem Arbeitszeitkonto gestrichen (Anl. BG1, Bl. 163 d.A.).

Am 17.6.2009 wurde der Kläger abgemahnt, weil er sich für den 4.4.2009 wegen einer Knieverletzung beim Fußball krank gemeldet hatte, eine Stunde später jedoch aktiv über die gesamte Länge an einem Fußballspiel als Torwart teilnahm (Anl. Bl. 176). Der Kläger räumte ein, sich falsch verhalten zu haben.

Ebenfalls am 17.6.2009 wurde dem Kläger aufgegeben, bereits am ersten Tag einer Arbeitsunfähigkeit diese ärztlich bescheinigen zu lassen (Anl. B 9, Bl. 81 d.A.).

Am 29.7.2010 wurde der Kläger ermahnt, weil er sich wegen fehlender Fitness selbst vom Außendienst entband und stattdessen Innendienst machte (Anl. Bl. 165 d.A.).

Am 12.7.2011 wurde der Kläger abgemahnt, weil er eine Stunde zu spät seinen Außendienst am 10.2.2011 aufgenommen hatte. Der Kläger gab an, es seien zuvor noch dienstliche Emails zu lesen gewesen. Weiter wurde dem Kläger vorgeworfen, er habe sich sodann krank gemeldet, dies aber nicht – wie angewiesen – bei seinem Vorgesetzten getan. Der Kläger meinte, dies sei nur bei Krankmeldung von zu Hause aus erforderlich. Am 11.2.2011 habe er in zwei Fällen nicht unverzüglich Tagebuchnummern für Vorfälle vergeben und im Funkprotokoll das Eintreffen eines Dienstfahrzeuges falsch dokumentiert (Anl. Bl. 178 d.A.). Insoweit bestritt der Kläger die Vorwürfe.

Am 3.12.2012 wurde der Kläger erneut abgemahnt. Im Zeitraum vom 31.5.2012 bis 9.10.2012 war der Kläger in 9 Fällen verspätet zum Dienst erschienen und in 4 Fällen hatte er unerlaubt den Dienst vorzeitig beendet. Der Kläger hatte im Rahmen der Anhörung angegeben, Probleme mit seiner Partnerin zu haben und sich Sorgen um die Gesundheit seiner Eltern zu machen (Anl. B 2, Bl. 41 d.A.).

Am 27.12.2012 folgte eine Ermahnung, weil der Kläger seine Dienstkleidung am 3.10.2012 weisungswidrig nicht trug, stattdessen im Trainingsanzug zum Dienst erschien. In seiner Stellungnahme gab der Kläger an, seinen Dienstschlüssel zu Hause vergessen zu haben, deshalb hätte er nicht an seine Dienstkleidung kommen können (Bl. 167 d.A.).

Am 18.2.2013 folgte eine Abmahnung wegen vorzeitigen eigenmächtigen Verlassens des Dienstes. Dem Kläger war gestattet worden, den Dienst eine Stunde früher – also gegen 14.12 Uhr – zu beenden. Tatsächlich war der Kläger um 13.30 Uhr gegangen.

In seiner Stellungnahme gab der Kläger an, ihm sei nicht klar gewesen, dass es sich um einen Zeitraum von genau 60 Minuten hätte handeln sollen B 3, Bl. 44 d.A.).

Am 26.2.2013 wurde der Kläger ermahnt, weil er sich für die Tage 31.1. und 1.2.2013 krank gemeldet, aber keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt hatte (Anl. Bl. 169 d.A.). Der Kläger gab an, seinen Arzt am 31.1.2013 telefonisch erreicht zu haben, ihm sei eine rückwirkende Bescheinigung zugesagt worden, am 1.2.2013 hätte er ihn aufgesucht, dort aber wegen eines Streites mit den Arzthelferinnen der Praxis verwiesen worden zu sein.

Am 22.10.2014 ergaben sich im Arbeitszeitkonto des Klägers 229 Minuseinheiten (jede Zeiteinheit umfasst 6 Minuten, 10 Einheiten also 1 Stunde). Hierüber gab es ein Gespräch mit seinem Vorgesetzten, der Kläger sagte zu, die Minusstunden abzubauen (Anl. BG 2, Bl. 191 d.A.).

Am 10.3.2015 folgten eine Ermahnung wegen 9 fehlenden und 9 lückenhaften Arbeitsberichten (Anl. Bl. 172 d.A.) und eine Abmahnung wegen der Bedrohung eines Kollegen mit den Worten, er solle seine Dienstkleidung ausziehen und vor die Tür gehen, dort würde es geregelt. In seiner Stellungnahme gab der Kläger an, gesagt zu haben, man gehe vor die Tür und rede darüber (Anl. Bl. 188 d.A.).

Am 10.3.2015 wurde der Kläger ermahnt wegen fehlender Anzeige des Verlustes einer Waffe, nämlich einer Dose mit Reizgas (Anl. Bl. 174 d.A.).

Am 7.4.2015 wurde der Kläger erneut ermahnt, Minusstunden abzubauen.

Am 31.3.2015 hatte der Kläger 22 Stunden und 24 Minuten, am 30.4.2015 45 Stunden und 24 Minuten im Minus angehäuft.

Im Mai 2015 wurde festgestellt, dass die Zahl der Minusstunden nicht geschrumpft, sondern erheblich gewachsen war (Anl. B 5, Bl. 54 d.A.). Nach erneuter Ermahnung am 12.5.2015 waren es am 30.5.2015 55,9 – statt erlaubter 20 – Minusstunden. Nach einer erneuten Ermahnung Anfang Juni 2015, diese Stunden abzubauen, ergaben sich am 17.6.2015 59 Minusstunden.

Die Beklagte informierte – nach erneuter Anhörung des Klägers am 18.6.2015 (Anl. B 6, Bl. 57 d.A.) - den Personalrat am 23.6.2015 (B 4, Bl. 46 d.A.).

Der Personalrat äußerte am 23.6.2015 (Bl. 56 d.A.):

 „Aufgrund der Summe der zahlreichen und vielfältigen Vorfälle, die zu der beabsichtigten außerordentlichen fristlosen Kündigung … geführt haben, stimmt der – PR – dieser zu.“

Der Kläger hat vorgetragen, er habe seinen direkten Vorgesetzten, Herrn R1, im ersten Halbjahr 2015 über seine familiären Probleme - nämlich die schwere Erkrankung seiner Eltern sowie psychische Probleme seiner ihm nahestehenden Tante - in Kenntnis gesetzt. Er habe nicht damit gerechnet, dass die Beklagte ihn wegen des Minussaldos im Juni 2015 außerordentlich kündigen werde. Ihm sei zu keiner Zeit angedroht worden, dass die Beklagte das Arbeitsverhältnis beenden werde, wenn er den Minussaldo bis zu einem bestimmten Stichtag nicht wieder in den zulässigen Bereich zurückführen werde. Eine Frist zum Abbau des Minussaldos sei ihm nicht gesetzt worden. Die Beklagte hätte ihn vor Ausspruch der Kündigung abmahnen müssen. Die Abmahnungen vom 3.12.2012 und 18.2.2013 seien nicht einschlägig. Es fehle an einer Gleichartigkeit der Pflichtverletzungen. Die verspätete Aufnahme des Dienstes bzw. das vorzeitige Verlassen des Dienstes seien von anderer Qualität als der nicht rechtzeitige Abbau des Minussaldos auf dem Arbeitszeitkonto.

Der Kläger hat beantragt

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 29.6.2015 noch durch die hilfsweise außerordentliche Kündigung der Beklagten mit sozialer Auslauffrist vom 29.6.2015 zum 31.12.2015 beendet wird;

2. im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Angestellter weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat vorgetragen, der Kläger habe damit rechnen müssen, dass seine fortgesetzten Verstöße gegen die Arbeitszeitvorgaben der Beklagten zu einer Kündigung führen würden. Die den Abmahnungen vom 3.12.2012 und 18.2.2013 zu Grunde liegenden Verstöße seien vergleichbar mit den Verstößen gegen die Dienstvereinbarung. Es handele sich sowohl bei den abgemahnten Pflichtverletzungen als auch bei den Verstößen gegen die Dienstvereinbarung um die Einhaltung vorgegebener Arbeitszeiten. Soweit der Kläger Probleme im persönlichen Umfeld als Grund für die Verstöße gegen die Arbeitszeitregelung angebe, ändere dies nichts. Der Kläger habe im Jahr 2015 zu keiner Zeit gegenüber seinem Vorgesetzten oder gegenüber Kollegen anklingen lassen, dass er sich aufgrund der Erkrankung von Angehörigen in einer psychisch angespannten Lage befinde. Dies sei auch für seinen Vorgesetzten zu keinem Zeitpunkt ersichtlich gewesen.

Durch das der Beklagten am 7.3.2016 zugestellte Urteil vom 20.1.2016, auf das zur näheren Sachdarstellung Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben.Es sei bereits zweifelhaft, ob im Aufbau der Minusstunden ein arbeitsvertraglicher Pflichtenverstoß zu sehen sei, der einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 BGB an sich begründen könne. Denn in Ziffer 2.4 lit. b) der Dienstvereinbarung (Blatt 39 der Akte) sei geregelt, dass im Falle eines Zeitsaldos von mehr als 20 Minusstunden der Vorgesetzte und der Beschäftigte gemeinsam dafür Sorge tragen, dass das Zeitkonto innerhalb eines Monats wieder in die Grünphase zurückgeführt werde. Es liege damit nicht allein im Verantwortungsbereich des Beschäftigten, für einen Abbau des Minussaldos Sorge zu tragen. Gefordert sei damit auch ein Aktivwerden des Vorgesetzten. Aber selbst wenn man zugunsten der Beklagten davon ausgehe, dass weitere Mitwirkungshandlungen nicht erforderlich gewesen seien und der Kläger durch den Nichtabbau von Minusstunden gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen habe, wäre in Ansehung der Umstände des Einzelfalles und der Abwägung der widerstreitenden Interessen eine Kündigung gleichwohl nicht gerechtfertigt. Denn unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles hätte die Beklagte den Kläger vor Ausspruch der Kündigung für das streitgegenständliche Fehlverhalten zunächst abmahnen müssen. Entgegen der Ansicht der Beklagten seien die Abmahnungen vom 3.12.2012 und 18.2.2013 nicht einschlägig. Sie beträfen einen anderen Pflichtenkreis. Bei den dort zu Grunde liegenden Verfehlungen bestehe die Pflichtverletzung darin, dass der Kläger verspätet zum Dienst erschienen oder diesen vorzeitig verlassen habe, also im Ergebnis die festgelegte Lage der Arbeitszeit nicht zuverlässig eingehalten habe. Im Hinblick auf den nicht erfolgten Abbau von Minusstunden liege der Vorwurf der Pflichtverletzung darin, dass der Kläger eine über seine reguläre Arbeitszeit hinausgehende Mehrarbeit nicht geleistet habe.

Hiergegen richtet sich die am 23.3.2016 eingelegte und mit am 3.6.2016 beim Landesarbeitsgericht Hamburg eingegangenen Schriftsatz begründete Berufung der Beklagten, nachdem die Berufungsbegründungsfrist am 4.5.2016 bis zum 7.6.2016 verlängert worden war.

Die Beklagte trägt unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vorbringens vor, Herr R1 sei nicht der Vorgesetzte des Klägers gewesen. Gegenüber seinem Vorgesetzten, Herrn K., habe er sich nicht entsprechend geäußert. Im Übrigen habe der Kläger nicht dargelegt, aus welchen konkreten Gründen ihn die – bestrittene – besondere Familiensituation an der Erbringung seiner Arbeitsleistung gehindert haben solle. Es gehe nicht darum, dass der Kläger nicht über seine reguläre Arbeitszeit hinausgehende Mehrarbeit nicht geleistet habe, sondern darum, dass er unter Verstoß gegen die Dienstvereinbarung die Hauptleistungspflicht zur Arbeitsleistung nicht erfüllt habe. Dies sei dem Kläger – insbesondere nach den einschlägigen Abmahnungen - klar gewesen, er habe es auf die Spitze getrieben.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Hamburg vom 20. Januar 2016 – 16 Ca 307/15 –

die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger trägt vor, er habe auch Herrn K. von den gesundheitlichen Problemen seiner Familie erzählt. Er habe angeboten, die Minusstunden mit seinem Urlaub zu verrechnen. Die Beklagte habe ihn nicht angehalten, die Minusstunden durch Arbeitsleistung an bestimmten Tagen abzubauen. Eine negative Prognose sei nicht zu stellen. Die Abmahnungen vom 3.12.2012 und 18.2.2013 seien nicht einschlägig. Es sei für ihn nicht erkennbar gewesen, dass die Beklagte mit einer Kündigung reagieren würde. Rückstände in seiner Arbeit seien nicht entstanden.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien, ihrer Beweisantritte und der von ihnen überreichten Unterlagen sowie ihrer Rechtsausführungen wird ergänzend auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung der Beklagten ist gemäß § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthaft und im Übrigen form- und fristgemäß eingelegt und begründet worden und damit zulässig (§§ 64 Abs. 6, 66 ArbGG, 519, 520 ZPO).

II.

Die fristlose Kündigung der Beklagten vom 29.6.2015 ist gemäß § 34 Abs. 2 TV-L, § 626 Abs. 1 BGB wirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien beendet.

1. Es ist von folgenden Rechtsgrundsätzen auszugehen: Nach § 626 Abs. 1 BGB (auf den § 34 Abs. 2 TV-L über den „wichtigen Grund“ verweist) kann ein Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann (BAG 27.04.2006 - 2 AZR 386/05 - 18.09.2008 – 2 AZR 827/06 –, juris).

Bei der Prüfung der Frage, ob ein wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung eines ordentlich unkündbaren Arbeitnehmers vorliegt, geht es allein um die Abwägung, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der "fiktiven" Kündigungsfrist noch zugemutet werden kann (BAG 27.04.2006 – 2 AZR 386/05 – juris).Die Interessenabwägung hat sich damit allein daran zu orientieren, ob bei einem vergleichbaren Arbeitnehmer ohne den Sonderkündigungsschutz nach § 34 Abs. 2 TV-L unter denselben Umständen und bei entsprechender Interessenlage ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung ohne Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist anzunehmen wäre.

Für eine verhaltensbedingte Kündigung gilt das sog. Prognoseprinzip. Der Zweck der Kündigung ist nicht Sanktion für die Vertragspflichtverletzung, sondern dient der Vermeidung des Risikos weiterer Pflichtverletzungen. Die vergangene Pflichtverletzung muss sich deshalb noch in der Zukunft belastend auswirken (BAG 19. April 2007 - 2 AZR 180/06 – mwN. juris). Eine negative Prognose liegt vor, wenn aus der konkreten Vertragspflichtverletzung und der daraus resultierenden Vertragsstörung geschlossen werden kann, der Arbeitnehmer werde den Arbeitsvertrag auch nach einer Kündigungsandrohung erneut in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen. Deshalb setzt eine Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung regelmäßig eine Abmahnung voraus. Sie dient der Objektivierung der negativen Prognose (BAG 19. April 2007 -2 AZR 180/06 - aaO mwN).

Die Abmahnung ist zugleich aber auch Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Eine Kündigung ist nicht gerechtfertigt, wenn es andere geeignete mildere Mittel gibt, um die Vertragsstörung zukünftig zu beseitigen. Eine vorherige Abmahnung ist unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aber ausnahmsweise entbehrlich, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht erwartet werden kann oder es sich um eine schwere Pflichtverletzung handelt, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne weiteres erkennbar ist und bei der die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist. Ähnliches ergibt sich aus § 314 Abs. 2 Satz 2 BGB, nach dem § 323 Abs. 2 BGB entsprechende Anwendung findet. Nach § 323 Abs. 2 BGB ist eine Fristsetzung bzw. damit auch eine Abmahnung entbehrlich, wenn der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verweigert oder besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen den sofortigen Rücktritt bzw. eine Kündigung rechtfertigen (BAG 19. April 2007 - 2 AZR 180/06 – aaO).

2. In Anwendung dieser Rechtsgrundsätze erweist sich die am 29.6.2015 ausgesprochene fristlose Kündigung als rechtswirksam.

a. Es liegt eine erhebliche, die Schwelle zum wichtigen Grund überschreitende Pflichtverletzung vor. Die Erbringung der Arbeitsleistung im Rahmen des vom Arbeitgeber ausgeübten Weisungsrechtes ist eine Hauptleistungspflicht im Arbeitsverhältnis gemäß § 611 BGB. Die Pflichten des Klägers ergeben sich vorliegend aus seinem Arbeitsvertrag, dem anwendbaren Tarifverträgen (§ 3 TV-L) und Dienstvereinbarungen sowie ggf. Weisungen im Rahmen des Direktionsrechtes. Der Kläger schuldet danach eine Arbeitsleistung von 39 Stunden in der Woche.

Im Einführungssatz zu Ziffer 2 der Dienstvereinbarung vom 31.5.2013 (Anl. B 1, Bl. 34 d.A.) heißt es zum Stichwort Gleitende Arbeitszeit:

 „Mit dieser Dienstvereinbarung dokumentieren die Dienststellen und der Personalrat ihr Bestreben, den Beschäftigten ein Höchstmaß an Zeitsouveränität und Eigenverantwortung einzuräumen…“

In Ziffer 2.4. heißt es:

a. Grünphase

b. Innerhalb eines Rahmens von 20 Minus- bis 40 Plusstunden können die Beschäftigten unter Berücksichtigung der dienstlichen Belange eigenverantwortlich disponieren.

c. Rotphase

Ein Zeitsaldo von mehr als 20 Minus- bzw. 40 Plusstunden ist grundsätzlich nicht möglich. Sollte es dennoch kurzfristig zu einer Überschreitung der Grünphase kommen, ist die bzw. der Vorgesetzte unverzüglich zu unterrichten.

Die bzw. der Vorgesetzte und die bzw. der Beschäftigte tragen gemeinsam dafür Sorge, dass das Zeitkonto innerhalb eines Monats wieder in die Grünphase zurückgeführt wird.“

Die Überschreitung einer Zahl von 20 Minusstunden ist also grundsätzlich gar nicht möglich, allenfalls kurzfristig vorstellbar und in einem solchen Ausnahmefall innerhalb eines Monats zurückzuführen.

Für den Kläger ist festzustellen, dass bereits im Oktober 2014 ein Gespräch wegen des Überschreitens des Minusstundenlimits geführt werden musste (BG 2, Bl. 191) und vereinbart wurde, die Minuseinheiten ab Montag, 27.10.2014, täglich mit einer Stunde Mehrarbeit abzubauen: „Herr B. war einsichtig und wird/will sich an die Vereinbarung halten.“

Es ist weiter festzustellen, dass der Kläger die Vorschriften aus der Dienstvereinbarung jedenfalls seit dem Monat März 2015 beharrlich verletzt hat: Ende März 2015 waren es 22 Minusstunden und sie blieben damit noch im Rahmen der kurzfristigen Überschreitung, die mit Hilfe des Vorgesetzten innerhalb eines Monats zurückzuführen war. Die Ermahnung des Vorgesetzten vom 7.4.2015 half dem Kläger offensichtlich nicht, der bis Ende April 45 Minusstunden aufbaute und damit den Rahmen der Dienstvereinbarung schon um das Doppelte überschritt, von der überfälligen, auf einen Monat begrenzten Rückführungsspanne ganz abgesehen.

Der Aufforderung seines Vorgesetzten vom 12.5.2015, durch Ausweiten seiner Arbeitszeiten zu einem Abbau der Minusstunden beizutragen, folgte der Kläger nicht, der vielmehr weitere Minusstunden aufbaute, nämlich Ende Mai 2015 55,9, steigend bis zu seiner Anhörung am 18.6.2015 auf 59. Der Kläger erbrachte damit die für ihn vorgesehene Arbeitsleistung nicht, seine Aufgaben blieben liegen bzw. wurden von Kolleginnen und Kollegen miterledigt.

Der Kläger hat dadurch beharrlich und schwerwiegend gegen die Zeitvorgaben aus der Dienstvereinbarung und damit gegen die Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis mit steigender Tendenz verstoßen, obwohl er die von der Dienstvereinbarung vorgesehenen Anstöße seines Vorgesetzten – und sein ungekürztes Gehalt - erhielt.

Anders gesagt: Die gravierenden Vertragsverstöße des Klägers betreffend die Gleitzeitvorgaben stellen einen Kündigungsgrund an sich dar.

b. Die fristlose Kündigung ist bei Beachtung aller Umstände des vorliegenden Falls und nach Abwägung der widerstreitenden Interessen gerechtfertigt. Als Reaktion der Beklagten auf das Fehlverhalten des Klägers hätte eine Abmahnung nicht ausgereicht.

aa. Als mildere Reaktionen ist insbesondere die Abmahnung anzusehen. Sie ist dann alternatives Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet ist, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck - die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen - zu erreichen. Das Erfordernis zu prüfen, ob nicht schon eine Abmahnung ausreichend gewesen wäre, folgt aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (die Kündigung als „ultima ratio“) und trägt zugleich dem Prognoseprinzip bei der verhaltensbedingten Kündigung Rechnung (BAG 10.06.2010 – 2 AZR 541/09 – „Emmely“, juris). Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Diese grundsätzliche Annahme ist vorliegend jedoch durch die in der Vergangenheit ausgesprochenen Abmahnungen und das folgende Verhalten des Klägers widerlegt.

Schon die Abmahnung vom 6.11.2011 betraf die Erledigung nicht vorgesehener Aufgaben während der Dienstzeit und die durch Abzug von 2 Stunden auf dem Arbeitszeitkonto des Klägers folgende Sanktion. Wenn auch diese Abmahnung nicht einschlägig im Sinne einer Missachtung der Regeln der Dienstvereinbarung über die Gleitzeit war, konnte sie dem Kläger zeigen, dass die Beklagte die Arbeitszeitkonten und die Verwendung von Arbeitszeit unter Kontrolle hatte und bereit war, bei Verstößen arbeitsrechtliche Konsequenzen anzudrohen und ggf. auch zu ziehen. Insbesondere aber die Abmahnung vom 3.12.2012 musste dem Kläger unmissverständlich vor Augen führen, dass die Einhaltung der vorgegebenen Arbeitszeiten und auch deren Gleitzeitrahmen von der Beklagten kontrolliert wurden und Verstöße keinesfalls geduldet wurden. Verspätetes Kommen und vorzeitiges Gehen betrafen die Hauptleistungspflicht des Klägers, seine Arbeitskraft in dem von der Beklagten vorgegeben Rahmen zur Verfügung zu stellen. Diese Abmahnung ist einschlägig.

Dies gilt auch für die Abmahnung vom 18.2.2013, auch sie betraf die eigenmächtige Entscheidung des Klägers, nach seinem Gusto zu gehen und über die Arbeitszeit entgegen den Weisungen seines Arbeitgebers zu verfügen.

Hieraus ist ersichtlich, dass Abmahnungen bei dem Kläger auf taube Ohren stoßen und es nicht davon ausgegangen werden kann, dass er eine nunmehr erneut seine eigenmächtige, den Regeln zuwiderlaufende Arbeitszeitgestaltung betreffende Abmahnung in Zukunft ernster nehmen würde, obwohl dem Kläger zugleich klar sein konnte und musste, dass die Beklagte ein weiteres vertragswidriges Verhalten in diesem Kontext nicht mehr hinnehmen würde. Durch eine weitere Abmahnung war dieser Fall nicht zu lösen.

bb. Zugunsten des Klägers spricht seine jahrzehntelange Zugehörigkeit und – hiervon ist mangels anderweitigen Vortrags auszugehen – seine in der Zeit von 1993 bis 2007 gezeigte Loyalität. Das in dieser Beschäftigungszeit vom Kläger erworbene Maß an Vertrauen in die Korrektheit seiner Aufgabenerfüllung und in die Achtung der Interessen der Beklagten schlägt hoch zu Buche. Dieses Maß an Vertrauen in die ordnungsgemäße Vertragserfüllung hat allerdings seit dem Jahre 2007 so erhebliche Einbußen erlitten, dass es bei der erforderlichen Interessenabwägung kaum noch zugunsten des Klägers berücksichtigt werden kann. In kurzem Abstand folgte ein kaum erklärliches Verhalten des Klägers, das in vielerlei Ermahnungen und Abmahnungen mündete.

Hier ist insbesondere der Vorfall vom 4.4.2009 zu erwähnen, als der Kläger sich mit einer dreisten Begründung krank meldete, um sodann ein Fußballspiel in voller Länge zu absolvieren. Dieser Versuch, sich von der Arbeitsleistung – unter Fortzahlung der Bezüge – zu befreien, hätte als versuchter Arbeitszeitbetrug schon Kündigungsgrund sein können und war geeignet, das erworbene Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Leistungsbereitschaft des Klägers ganz erheblich zu erschüttern. Auch die übrigen im Tatbestand wiedergegeben Vorfälle, auf die Abmahnungen und Ermahnungen folgten, zeigen, dass jedenfalls ab dem Jahre 2007 mit dem Kläger nicht mehr gerechnet werden konnte. Selbstbefreiung vom Außendienst, Unzuverlässigkeit im Zusammenhang mit dem Schreiben von Berichten usw. belegen, dass der Kläger seine Position in einem Arbeitsverhältnis nicht mehr realistisch einschätzte. Die den Kündigungsgrund ausmachenden Missachtungen der Regeln der Dienstvereinbarung, die sich trotz Interventionen seiner Vorgesetzten nicht änderten, sondern zu einem weiteren Aufbau von Minusstunden führten, passen in dieses Bild eines Mitarbeiters, der seine eigenen Regeln setzt und den Bogen irgendwann – nämlich vorliegend – überspannt.

Anders gesagt: Zwar verfügt der Kläger über eine beeindruckende Dauer der Betriebszugehörigkeit, das in dieser Zeit anfangs aufgebaute Vertrauen hat er durch die Vielzahl und auch Schwere seiner Verfehlungen verspielt. Der Kläger ist in einem Alter, bei dem der Arbeitsmarkt nicht abweisend reagiert. Unterhaltsverpflichtungen bestehen nicht. Soweit der Kläger Sorge um die Gesundheit seiner Eltern und seiner Tante angibt, ist dies unsubstantiiert geblieben. Darüber hinaus stammte eine Vielzahl der Vorfälle aus der Zeit vor der behaupteten Sorge Anfang 2015.

Demgegenüber geht es der Beklagten um eine funktionierende Verwaltung, die von willigen Mitarbeitern getragen wird. Die Beklagte hat im Umgang mit dem Kläger ein Höchstmaß an Geduld gezeigt und mehrfach versucht, seine Eigenwilligkeiten in den Griff zu kriegen. Das ist misslungen. Ihr Interesse an einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses überwiegt daher.

Dies gilt auch bei der Frage der Unzumutbarkeit einer Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der fiktiven Kündigungsfrist von 6 Monaten zum Ablauf des Quartals (§ 34 Abs. 1 TV-L). Die Beklagte musste erleben, dass der Kläger seine Arbeitszeit nach eigenem Belieben gestaltete und dabei die Regeln – trotz Intervention seiner Vorgesetzten – beharrlich missachtete. Es war nicht zumutbar, dies für die Dauer von weiteren 6 Monaten sehenden Auges hinzunehmen und mit einem Arbeitnehmer zusammenzuarbeiten, der die vertragswidrige Zahl seiner Minusstunden trotz Belehrung nicht abbaute, sondern aufbaute. Die Beklagte hatte zu erwarten, dass bei einem verzögerten Ende des Arbeitsverhältnisses noch weitere Minusstunden in beträchtlicher Zahl auflaufen würden. Mit anderen Worten: Auch bei einem vergleichbaren Arbeitnehmer ohne den Sonderkündigungsschutz nach § 34 Abs. 2 TV-L wäre unter denselben Umständen und bei entsprechender Interessenlage ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung ohne Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist anzunehmen.

3. Die Kündigung wurde nach erfolgter Anhörung des Klägers am 18.6.2015 innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB ausgesprochen. Die Rechte des Personalrates wurden gewahrt, § 88 Abs. 4 HmbPersVG.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 72 Abs. 2 ArbGG.



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