Landesarbeitsgericht Hamburg

Urteil vom - Az: 5 Sa 22/14

Kündigung wegen unbezahltem Krabbenbrötchen

(1.) Rechtswidrige und vorsätzliche Handlungen des Arbeitnehmers, die sich unmittelbar gegen das Vermögen des Arbeitgebers richten, können auch dann ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung an sich sein, wenn die Pflichtverletzung Sachen von nur geringem Wert betrifft oder nur zu einem geringfügigen, möglicherweise gar keinem Schaden geführt hat.

Hier: Die Wegnahme von 50 oder 100 Gramm Krabbensalat stellt einen solchen wichtigen Grund dar.

(2.) Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen.
Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung - etwa im Hinblick auf das Maß eines durch sie bewirkten Vertrauensverlusts und ihre wirtschaftlichen Folgen -, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

Hier: Die klagende Arbeitnehmerin, die vom beklagten Arbeitgeber als Feinkost-Verkäuferin beschäftigt wird, hat sich an der Fischtheke des Verkaufshauses Krabbensalat genommen, ihr Brötchen damit belegt und gegessen. Entgegen der ausdrücklichen Anweisungen im Betrieb hat sie den Salat vorher bezahlt. Als ihr Vorgesetzter sie kauend antraf, gab sie sofort zu, den Krabbensalat nicht bezahlt zu haben - sie wüsste sie habe einen Fehler begangen, aber sie habe Hunger gehabt. Daraufhin hat ihr Arbeitgeber die außerordentliche sowie hilfsweise ordentliche Kündigung ausgesprochen.
Wie schon die Vorinstanz hat das Landesarbeitsgericht der Kündigungsschutzklage der Arbeitnehmerin stattgegeben; sowohl die außerordentliche als auch die ordentliche Kündigung seien unwirksam. Zwar handele es sich um einen schweren Vertragsverstoß, jedoch spreche zugunsten der Arbeitnehmerin insbesondere, dass das 13-jährige Beschäftigungsverhältnis unbelastet sei und sie die Tat nicht heimlich begangen hat.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 28. Januar 2014 - 11 Ca 233/13 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Rechtfertigung einer der Klägerin ausgesprochenen fristlosen und einer fristgerechten Kündigung sowie über den von ihr geltend gemachten Weiterbeschäftigungsanspruch und Anspruch auf Erteilung eines Zwischenzeugnisses.

Die 1980 geborene Klägerin ist bei der Beklagten bzw. ihren Rechtsvorgängerinnen auf der Grundlage des Arbeitsvertrages vom 25.08.1999 (Anlage K 1 zur Klagschrift vom 20.08.2013 - Bl. 4 d. A.) als Verkäuferin tätig. Während ihrer Beschäftigungszeit wurde die Klägerin in der Vergangenheit auch als Kassiererin eingesetzt, zuletzt war sie in der Feinkostabteilung im Ka. in der M. in Ha. tätig. Die Klägerin leistete in der Vergangenheit immer wieder Überstunden und zeigte gute Leistungen. Auch ihre Führung war gut. Seit dem 1.02.2012 arbeitet sie in Teilzeit mit 130 Stunden im Monat.

Die Klägerin ist getrenntlebend und vier Söhnen im Alter von 12, 8, und 5 Jahren zum Unterhalt verpflichtet. Sie erzielte nach ihren Angaben zuletzt eine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung in Höhe von € 1.906,55, nach Angabe der Beklagten € 1.792,78.

Unter dem 27.09.2012 erteilte die Beklagte der Klägerin eine Abmahnung wegen verspäteter Anzeige einer Arbeitsunfähigkeit (Anl. CMS 1, Bl. 103 d.A.).

Am Donnerstag, den 08.08.2013 begann die Klägerin ihre Arbeit um 08:00 Uhr, da sie ihre Schicht mit einer Kollegin getauscht hatte. Sie war zunächst für die Warenverräumung eingesetzt und sollte dann auf Anweisung des Assistenten Herrn Wi. gegen 12:00 Uhr eine Mitarbeiterin in der Abteilung Fisch/Feinkost ablösen, da diese in die Pause gehen wollte. Gegen 12:30 Uhr kam die Kollegin aus der Pause zurück und der Marktleiter, Herr St., sah, dass die Klägerin etwas kaute und sich in Richtung des Kühlhauses bewegte. In der Ecke neben der Eismaschine fand er ein angebissenes halbes Brötchen vor, das mit Nordseekrabbensalat belegt war. Auf Frage an die Klägerin, was es damit auf sich habe, erwiderte diese, dass es ihr Brötchen sei und holte eine Brötchentüte aus dem Mülleimer. Die Klägerin sagte, dass sie den Krabbensalatbelag noch nicht bezahlt habe mit der Begründung, dass sie noch keine Pause gehabt habe. Die Klägerin wurde mit sofortiger Wirkung freigestellt und es wurde ein Foto des angebissenen Brötchens erstellt (Anlage B 2 zum Schriftsatz vom 10.01.2014 - Bl. 39 d. A.). Der Verkaufspreis für 100 g Krabbensalat beträgt bei der Beklagten € 2,99.

Am Freitag, den 09.08.2013, war die Klägerin in der Zeit von 12:00 Uhr bis 20:00 Uhr zum Dienst eingeteilt. Sie erschien pünktlich um 12:00 Uhr und wurde zu einem Gespräch in das Marktleiterbüro gebeten. An dem folgenden Gespräch nahmen neben dem Marktleiter, Herrn St., die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende sowie die Prozessvertreterin der Beklagten teil. Im Rahmen dieses Gespräches bestätigte die Klägerin, dass sie den Krabbensalat, der sich auf dem Brötchen befand, nicht bezahlt habe und gab als Begründung an, dass sie Hunger gehabt habe und sich deswegen schon ein Brötchen geschmiert habe. Sie habe sich den Krabbensalat selbst abgefüllt und nicht ausgewogen. Die Klägerin bekundete, dass sie einsehe, dass sie einen Fehler gemacht habe, da ihr bekannt sei, dass sie keine Waren verzehren dürfe, ohne diese vorher bezahlt zu haben, sie aber die Absicht gehabt habe, die Bezahlung nachträglich vorzunehmen. Die Klägerin wurde in dem Gespräch darauf hingewiesen, dass sie zu einer angedachten fristlosen Kündigung angehört würde und ihr Gelegenheit gegeben werden solle, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Der Klägerin wurde ein Aufhebungsvertrag zum 31.08.2013 angeboten, den sie jedoch nicht annahm. Sie wurde anschließend unter Anrechnung von Urlaub von ihrer Arbeit freigestellt.

Bei der Beklagten ist es üblich, dass in Betriebsversammlungen immer wieder darauf hingewiesen wird, dass ein Verzehr von Ware ohne Bezahlung eine Kündigung zur Folge haben kann und weiterhin ist es Arbeitnehmern untersagt, während der Arbeitszeit zu essen, ebenso wenig ist es ihnen erlaubt Ware selbst auszuwiegen.

Unter dem 03.08.2013 hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat zur beabsichtigten außerordentlichen Tatkündigung sowie Verdachtskündigung an (Anlage B 1 zum Schriftsatz vom 23.10.2013 - Bl. 24 - 28 d. A.) Hinsichtlich des genauen Inhaltes der Anhörung wird auf die genannte Anlage verwiesen.

Unter dem 13.08.2013 (Anlage B 1 zum Schriftsatz vom 23.10.2013 - Bl. 29 d. A.) teilte der Betriebsrat mit, dass er abschließend über den Kündigungsantrag beraten habe und keine Stellungnahme abgebe. Die Beklagte kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis der Parteien fristlos unter dem 19.08.2013 sowie hilfsweise fristgerecht mit Datum vom 21.08.2013 zum 31. Januar 2014 (Anlage K 2 zur Klagschrift vom 20.08.2013 sowie Anlage K 3 zum Schriftsatz vom 27.08.2013).

Die Klägerin wendet sich mit ihrer am 21. August 2013 beim Arbeitsgericht Hamburg eingelegten Klage gegen die fristlose Kündigung sowie mit ihrer am 28. August 2013 beim Arbeitsgericht Hamburg eingegangenen Klage gegen die Rechtfertigung der fristgerechten Kündigung.

Sie hat vorgetragen, dass sowohl die fristlose als auch die fristgerechte Kündigung nicht gerechtfertigt seien, denn allein die Tatsache, dass sie - ohne ihn auszuwiegen und zu bezahlen - ca. 50 g Krabbensalat auf ein halbes Brötchen für den eigenen Verzehr verwendet habe, könne nicht ausreichen, um ein Arbeitsverhältnis, das im Übrigen unbeanstandet seit dem 01.09.1999 bestehe, fristlos oder fristgerecht zu beenden. Es treffe zwar zu, dass sie sich das halbe Brötchen nicht hätte belegen dürfen, ohne die Ware zuvor durch eine Kollegin auszuwiegen und auspreisen zu lassen, für dieses Verhalten könne sie sich nur entschuldigen. Sie könne es sich nur dadurch erklären, dass sie unmittelbar vor ihrem Einsatz an der Fisch-/Feinkosttheke habe Pause machen wollen und dafür ein aufgeschnittenes Brötchen erworben habe. Den Belag habe sie noch kaufen wollen. Als sie plötzlich zur Theke beordert worden sei, sei dieses jedoch nicht mehr möglich gewesen. Es treffe zwar zu, dass sie den Belag nach einer Dienstanweisung der Beklagten nur über eine Kollegin oder einen Kollegen hätte auswiegen und bei diesem kaufen dürfen, aber sie sei allein an der Theke gewesen. Deswegen habe sie geplant, das Auswiegen und Bezahlen nachzuholen, sobald die abgelöste Kollegin zurückgekehrt sei. Sie habe geplant, die Waage entsprechend zu belasten und den Kassenzettel ausdrucken zu lassen und anschließend zu bezahlen. Sie habe zu keinem Zeitpunkt die Absicht gehabt, sich den Belag unrechtmäßig und ohne ihn zu bezahlen anzueignen, was sich bereits auch daraus ergebe, dass sie jederzeit mit dem Erscheinen des Herrn St. habe rechnen müssen. Sie sei nicht auf die Idee gekommen, dass ihr Verhalten so eine schwere Folge haben könne, wie es sonst gegebenenfalls bei einem Vermögensdelikt selbstverständlich sei.

Im Hinblick auf die ihr ausgesprochenen Kündigungen habe sie einen Anspruch darauf, dass ihr die Beklagte ein Zwischenzeugnis mit einer guten Führungs- und Leistungsbeurteilung erstelle, denn ihre Führung und Leistungen seien vorbildlich gewesen und weit überdurchschnittlich und sie habe mehrfach Belobigungen erhalten und immer wieder Überstunden geleistet.

Die Klägerin hat beantragt,

1. es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin bei der Beklagten nicht durch deren fristlose Kündigung vom 19.08.2013 aufgelöst ist,

2. die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin sofort ein Zwischenzeugnis zu erteilen, in dem die Führung und Leistung der Klägerin mit „gut“ (stets zur vollen Zufriedenheit) beurteilt werden,

3. es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin bei der Beklagten auch nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 21.08.2013 aufgelöst ist,

4. die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen in der Feinkostabteilung ihres Kaufhauses M. , Ha., als Verkäuferin weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, dass das halbe Brötchen üppig mit Nordseekrabbensalat belegt gewesen sei und der Verzehr des Krabbenbrötchens habe in einem von der Theke aus nicht direkt einsehbaren Bereich stattgefunden, sodass man davon ausgehen könne, dass die Klägerin versucht habe, das Krabbenbrötchen möglichst unentdeckt zu verzehren. Herr St. habe die Klägerin zufällig im Thekenbereich entdeckt. Die Klägerin habe Kaubewegungen gemacht und sei offensichtlich überrascht gewesen, Herrn St. zu sehen. Die Begründung der Klägerin, warum sie die Bezahlung vergessen haben wolle, sei absolut unschlüssig und unglaubhaft. Es sei gang und gäbe, dass die Mitarbeiter im Lebensmitteleinzelhandel hinsichtlich ihrer Pausenzeiten flexibel agieren müssten und bereits deswegen erscheine es höchst zweifelhaft, dass die Klägerin vergessen haben wolle, wie Personaleinkäufe zu tätigen seien. Die Klägerin habe keine Pause gehabt, sodass sie überhaupt keine Nahrungsaufnahme hätte vornehmen dürfen. Vielmehr dränge sich der Beklagten der dringende Verdacht auf, dass die Klägerin gerade in dem Bewusstsein das Brötchen gegessen habe, für einen Moment in dem Bedienungsbereich allein zu sein und im rückwärtigen Bereich auch unbeobachtet und damit die günstige Gelegenheit habe nutzen wollen, schnell das Brötchen samt nichtbezahltem Krabbensalat zu verzehren. In diesem Zusammenhang sei darauf hinzuweisen, dass die Kollegin, die von der Klägerin vertreten worden sei, bereits aus der Pause zurückgekehrt gewesen sei, als die Klägerin von dem Marktleiter entdeckt worden sei, sodass die Klägerin grundsätzlich Gelegenheit gehabt hätte, sich den Krabbensalat von der Kollegin auswiegen zu lassen. Nach ihrer feststehenden Überzeugung ergebe sich eindeutig, dass die Klägerin überhaupt nicht die Absicht gehabt habe, den Krabbensalat zu bezahlen und sie es nicht lediglich vergessen habe. Eine Abmahnung als milderes Mittel sei im vorliegenden Fall aufgrund der Schwere des Verstoßes entbehrlich gewesen, da eine Hinnahme dieses Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen sei. Weiterhin sei darauf hinzuweisen, dass die Klägerin in der Anhörung gesagt habe, dass sie bereits in der Vergangenheit ebenso verfahren sei, d. h. Ware zu verzehren ohne sie zuvor durch eine Kollegin abwiegen zu lassen und die Ware zu bezahlen.

Durch das der Beklagten am 27.02.2014 zugestellte Urteil vom 28.01.2014, auf das zur näheren Sachdarstellung Bezug genommen wird, hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben.

Hiergegen richtet sich die am 21.03.2014 eingelegte und mit am 23.04.2014 beim Landesarbeitsgericht Hamburg eingegangenen Schriftsatz begründete Berufung der Beklagten.

Die Beklagte verweist unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens auf die der Klägerin erteilte, nach ihrem Verständnis einschlägige Abmahnung aus dem Jahre 2012 und meint, es sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin dreimal in Elternzeit - insgesamt sechs Jahre - gewesen ist. Strafrechtlich sei der Vorgang als vollendeter Diebstahl zu werten, schon deshalb habe es einer weiteren Abmahnung nicht bedurft. Bei der Interessenabwägung sei insbesondere zu berücksichtigen, dass die Klägerin heimlich gehandelt habe, das Arbeitsverhältnis eben nicht ungestört gewesen sei, es - anders als in der Emmely Entscheidung des BAG - nicht dreißig sondern nur vierzehn Jahre bestanden habe.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Hamburg vom 28.01.2014 - 11 Ca 233/13 - die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Die in der Abmahnung im Jahre 2012 erhobenen Vorwürfe träfen nicht zu. Sie habe auch in der Vergangenheit Kleinstmengen abgewogen und bezahlt.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien, ihrer Beweisantritte und der von ihnen überreichten Unterlagen sowie ihrer Rechtsausführungen wird ergänzend auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung der Beklagten ist gemäß § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthaft und im Übrigen form- und fristgemäß eingelegt und begründet worden und damit zulässig (§§ 64 Abs. 6, 66 ArbGG, 519, 520 ZPO).

II.

Mit ausführlicher, überzeugender Begründung hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben. Dem folgt das Berufungsgericht. Es wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.

1. Die fristlose Kündigung vom 19.08.2013 ist nicht wirksam.

Es war nach folgenden Rechtsgrundsätzen zu entscheiden: Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Das Gesetz kennt folglich keine „absoluten“ Kündigungsgründe. Vielmehr ist jeder Einzelfall gesondert zu beurteilen. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, dh. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile - jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist - zumutbar ist oder nicht (st. Rspr. BAG10. Juni 2010 - 2 AZR 541/09 - BAGE 134, 349-367 („Emmely“); 26. März 2009 - 2 AZR 953/07 - AP BGB § 626 Nr. 220; 27. April 2006 - 2 AZR 386/05 BAGE 118, 104, juris).

a.Rechtswidrige und vorsätzliche Handlungen des Arbeitnehmers, die sich unmittelbar gegen das Vermögen des Arbeitgebers richten, können auch dann ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung an sich sein, wenn die Pflichtverletzung Sachen von nur geringem Wert betrifft oder nur zu einem geringfügigen, möglicherweise gar keinem Schaden geführt hat (BAG 10. Juni 2010 aaO). Mit dem Arbeitsgericht geht die Berufungskammer unter Anwendung dieser Rechtsprechung davon aus, dass die Wegnahme von 50 oder 100 gr - für die Kammer macht dies keinen Unterschied - Krabbensalat durch die Klägerin am 08.08.2013 einen wichtigen Grund an sich iSd. § 626 Abs. 1 BGB darstellt. Die Beklagte hat Recht, wenn sie darauf hinweist, dass sich diese Handlung strafrechtlich sogar als Diebstahl iSd. § 242 StGB darstellt und kündigungsrechtlich als rechtswidrige und vorsätzliche Handlung gegen das Vermögen des Arbeitgebers gerichtet ist. Begeht der Arbeitnehmer bei oder im Zusammenhang mit seiner Arbeit rechtswidrige und vorsätzliche - ggf. strafbare - Handlungen unmittelbar gegen das Vermögen seines Arbeitgebers, verletzt er zugleich in schwerwiegender Weise seine schuldrechtliche Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB) und missbraucht das in ihn gesetzte Vertrauen. Eine vermutete Einwilligung der Beklagten - wie die Klägerin wohl in ihrer Berufungserwiderung andeuten möchte - liegt nicht vor, es ist auch nichts ersichtlich, was diese Annahme unterstützen würde. Im Gegenteil weiß jeder der Beschäftigten, wie Personaleinkäufe ablaufen, auch die Klägerin, die dies in der Vergangenheit nach ihren Angaben den Richtlinien entsprechend getan hat. Eine andere Bewertung ergibt sich auch nicht daraus, dass die Klägerin vorträgt, sie habe noch die Absicht gehabt, die Ware auszuwiegen und zu bezahlen. Mit dem Verzehr der unbezahlten Ware war der Vertragsverstoß vollendet (und ein Auswiegen physikalisch unmöglich).

b. Die fristlose Kündigung ist bei Beachtung aller Umstände des vorliegenden Falls und nach Abwägung der widerstreitenden Interessen gleichwohl nicht gerechtfertigt.

Hierfür gelten folgende Rechtsgrundsätze: Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumutbar ist oder nicht, lassen sich nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung - etwa im Hinblick auf das Maß eines durch sie bewirkten Vertrauensverlusts und ihre wirtschaftlichen Folgen -, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf (BAG 10. Juni 2010 aaO.). Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind.

Es ist bei Anwendung dieser Rechtsgrundsätze zutreffend, dass die Beklagte berücksichtigen muss, dass ihre Entscheidungen im Zusammenhang mit Vermögensdelikten erhebliche Auswirkungen auf die Belegschaft haben. Es ist eben keineswegs so, dass ein Diebstahl im Arbeitsverhältnis (bis zu welchem Wert der gestohlenen Sache?) tolerabel sein könnte. Dies gilt umso mehr, als den im Verkauf Beschäftigten und damit auch der Klägerin nicht nur geringe Werte anvertraut werden, es sich wegen der Vielzahl der ausgestellten und zugänglichen Waren in der Tat um einen sensiblen Bereich handelt, der ganz wesentlich Vertrauen für die Zusammenarbeit in einem Dauerschuldverhältnis voraussetzt.

Dieses Vertrauen ist durch die Wegnahme des Krabbensalats in erheblicher Weise vorsätzlich erschüttert und eine Kündigung ist naheliegend. Wenn in diesem Einzelfall sich die Kündigung dennoch nicht als wirksam darstellt, so liegt dies an Folgendem: Das Arbeitsverhältnis bestand zum Zeitpunkt des Vertragsverstoßes seit 13 Jahren. Der rechtliche Bestand ist durch die genommene Elternzeit nicht geschmälert, auch wenn das Ausmaß von erarbeiteten Vertrauen einen geringeren Umfang bei Berücksichtigung dieser Abwesenheitszeiten haben mag und vorliegender Fall sich damit - wie die Beklagte zu Recht ausführt - im Vergleich zur Betriebszugehörigkeit im Emmely-Fall deutlich unterscheidet. Dennoch ist in der Zeit des bestehenden und gelebten Arbeitsverhältnisses erhebliches Vertrauen entstanden. Die Kammer bewertet das Arbeitsverhältnis der Parteien als unbelastet. Die Abmahnung vom 27. September 2012 ist nicht einschlägig, betraf gerade nicht den Vertrauensbereich, Fragen von Anstand und Ehrlichkeit, sondern die rechtzeitige und ordnungsgemäße Abwicklung der Bekanntgabe von Krankheitsfehlzeiten, ein Thema, das durchaus häufiger Anlass gibt zu Abmahnungen und Kündigungen, aber nicht zur Frage des Umgangs mit Vermögensdelikten gehört. Es handelte sich um eine Störung in den arbeitsrechtlichen Beziehungen der Parteien, nicht aber um einen Abbau von erarbeitetem Vertrauen.

Auch wenn man mit dem Bild der Beklagten - getragen von der BAG-Entscheidung vom 10. Juni 2010 - vom „halben Vertrauensvorrat“ im Vergleich zu Emmely bei der Interessenabwägung arbeitet, ergibt sich angesichts der weiteren Umstände, dass ausnahmsweise dieser Vorrat noch nicht endgültig verbraucht ist: Die Klägerin hat nicht - wie die Beklagte meint - heimlich gehandelt. Selbstverständlich hat sie sich nicht selbst angezeigt oder sonst offen mit ihrem Tun provoziert, sie hat - dies ist Überzeugung der Kammer - allerdings gehofft, nicht entdeckt zu werden. Ihre Behauptung, sie habe noch abwiegen und dann bezahlen wollen, erscheint unglaubwürdig und wurde von der Kammer zu ihren Lasten gewertet. Dennoch lässt sich nicht feststellen, dass die Klägerin heimlich iSd. o.a.. Rechtsprechung gehandelt hat: sie hat den Krabbensalat von der Theke genommen, auf ihr Brötchen geschmiert und dies gegessen, bis sie kauend dann auch von dem zufällig vorbei kommenden Vorgesetzten angetroffen wurde. Sofort hat sie eingeräumt, den Krabbensalat nicht bezahlt zu haben. Heimliches lässt sich hierbei nicht feststellen.

Die Klägerin hat im Gespräch am 09.08.2013 nicht versucht, eine Geschichte zur Vertuschung des Geschehens zu erzählen, sondern hat Unrechtsbewusstsein und Reue gezeigt, wenn auch dies - widersprüchlich - eingeschränkt wurde durch die Behauptung, sie hätte noch abwiegen und bezahlen wollen. Die Klägerin gab an, Hunger gehabt zu haben. Letzteres ändert die Art des Vorwurfs als Vermögensdelikt nicht, lässt aber doch ein ganz leicht milderes Licht auf die Tat fallen als beim Griff in die Kasse.

Zu den Umständen des Einzelfalles gehören das noch recht junge Alter der Klägerin, die guten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt einerseits, andererseits aber die bestehenden Unterhaltspflichten gegenüber vier minderjährigen Kindern und dabei der Status der Klägerin als alleinerziehender Mutter. Bei einer Gesamtwürdigung all dieser Umstände kam die Kammer zu dem Ergebnis, dass es der Beklagten zumutbar ist, mit der Klägerin in Zukunft weiter zusammenzuarbeiten, zumal davon auszugehen ist, dass angesichts des Unrechtsbewusstseins der Klägerin und ihrer gezeigten Reue es nicht zu weiteren derart schwerwiegenden Vertragsverletzungen kommen wird. Mit dem Arbeitsgericht ist deshalb davon auszugehen, dass eine mildere Sanktion - bspw. eine Abmahnung statt einer sofortigen (und auch fristgemäßen, dazu gleich unter 2.) Beendigung des Arbeitsverhältnisses - angemessen und zumutbar gewesen wäre.

Erst im Rahmen der Interessenabwägung erweist sich die außerordentliche Kündigung als unwirksam.

2. Die Prüfung einer verhaltensbedingten fristgemäßen Kündigung erfolgt in drei Schritten: Das vertragswidrige Verhalten muss Anlass geben, konkrete Störungen auch in Zukunft befürchten zu müssen (der Zweck der Kündigung ist nicht die Sanktion für eine Vertragspflichtverletzung sondern eine Vermeidung von weiteren Vertragspflichtverletzungen). In einem zweiten Schritt sind Umsetzungsmöglichkeiten zu prüfen und letztlich ist in einer dritten Stufe eine Interessenabwägung vorzunehmen (APS-Dörner/Vossen4. Aufl. 2012 Nr. 272ff zu § 1 KSchG mwN.).

Die Ausführungen zur Interessenabwägung im Rahmen der Prüfung der fristlosen Kündigung führen im Ergebnis auch zur fehlenden sozialen Rechtsfertigung der fristgemäßen Kündigung vom 21.08.2013. Es ist angesichts der vorgenannten Umstände des Einzelfalles der Beklagten nicht nur zumutbar, die Klägerin bis zum Ablauf der Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen, sondern dies angesichts des nicht vollständig verbrauchten Vertrauens auch in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis zu tun.

3. Der Leistungsantrag auf Weiterbeschäftigung bis zur Rechtskraft ist damit auch begründet, die erforderliche Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen ist bereits bei Prüfung der Kündigungen erfolgt, weitere Aspekte ergeben sich hier nicht. Die Erteilung eines Zwischenzeugnisses ist damit ebenfalls begründet, dies wird in der Berufungsbegründung - konsequenter Weise - auch nicht gesondert in Frage gestellt.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 72 Abs. 2 ArbGG.



Sie kennen die Kanzlei Labisch aus folgenden Medien:

Logo SWR1
Logo SWR4
Logo RPR1
Logo Wiesbadener Kurier
Logo Geißener Anzeiger
Logo Wormser Zeitung
Logo Wiesbadener Tagblatt
Logo Main Spitze
Logo Frankfurter Rundschau
Logo Handelsblatt
Logo Allgemeine Zeitung
Logo Darmstädter Echo
Logo Focus
Logo NTV
Logo ZDF WISO
Lexikon schließen
Schließen