Landesarbeitsgericht München

Beschluss vom - Az: 3 TaBV 5/14

Neues Lohnsystem: Entstehenszeitpunkt des Mitbestimmungsrechts

1. Dem Beteiligten eines Beschlussverfahrens ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand der Beschwerdefrist und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren, wenn der erstinstanzliche Beschluss eine nicht offensichtlich fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung enthielt und der Beteiligte im Vertrauen hierauf die Frist für die Einlegung und Begründung der Beschwerde versäumte.

2. Das Beteiligungsrecht des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG entsteht bereits in dem Moment, in dem die Arbeitgeberin ein auf Vergütungsgruppen basierendes Vergütungssystem einzuführen beabsichtigt. Dies folgt aus dem Wortlaut sowie dem Sinn und Zweck der Norm. Hat sich der Betriebsrat zu diesem Zeitpunkt noch nicht konstituiert, so kann er nicht nachträglich verlangen, an der grundsätzlichen Entscheidung für ein neues Vergütungssystem beteiligt zu werden.
(Leitsätze)

Tenor

I. Die Beschwerde des Beteiligten zu 1) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts München vom 02.07.2013 - 14 BV 425/12 - wird zurückgewiesen.

II. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe

I.

Der Betriebsrat begehrt von der Arbeitgeberin, die Einführung eines neuen Vergütungssystems zu unterlassen.

Die Beteiligte zu 2) (im Folgenden: Arbeitgeberin) ist ein Unternehmen, das auftragsweise Zeitungen an Abonnenten ausliefert. Sie beschäftigt ca. 85 Zeitungszusteller, die in bestimmten Zustellbezirken, die meist einige zusammenhängende Straßenzüge umfassen, die Zeitungen verteilen. Bis Anfang 2009 richtete sich die Vergütung der Zeitungszusteller nach einem einheitlichen Lohnstückmodell. Danach erhalten die Zusteller pro zugestellter Zeitung einen je nach Zeitungstitel und Erscheinungstag unterschiedlichen Stücklohn sowie nach Gewicht und Anzahl der als Beilagen bezeichneten Werbeprospekte variierende Zulagen.

Anfang 2009 verlangte die Gesellschafterin der Arbeitgeberin, die auch Gesellschafterin anderer Zeitungsvertriebsgesellschaften in M. ist, ein neues Vergütungssystem einzuführen. Es besteht aus verschiedenen Vergütungsgruppen, den sog. Tourenklassen, die den Schwierigkeitsgrad der verschiedenen Zustelltouren abbilden sollen. Die Tourenklasse 1 ist für besonders schwere Touren vorgesehen, bei denen die Zustellung vergleichsweise besonders lang dauert. Die Tourenklasse 7 soll besonders leichte, d. h. schnell zu bedienende Touren vergüten. Die Tourenklasse 3 deckt durchschnittliche „Normaltouren“ ab. Die restlichen Tourenklassen entsprechen den Zwischenstufen beim Schwierigkeitsgrad. Kriterien, nach denen die Zuordnung bestimmter Zustellbezirke in die Tourenklassen erfolgen könnte, sind bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht München am 20.03.2014 nicht bestimmt worden. Je nach Erscheinungsweise der Zeitungen - fünf- oder sechstägig bzw. wöchentlich - wird monatlich ein fester Betrag pro Abonnement gezahlt, wobei zwischen Zusteller mit und ohne Lohnsteuerkarte unterschieden wird. Die Zulagen für Werbeprospekte sind entfallen. Nachtzuschläge werden bei Zustellungen bis 6:00 Uhr gezahlt. Für weitere Einzelheiten wird auf die Anlage AG 4 zum Schriftsatz der Arbeitgeberin vom 28.02.2013 (= Bl. 133 d. A.) Bezug genommen.

Die im Frühjahr 2009 eingestellten Arbeitnehmer haben Arbeitsverträge auf der Grundlage des neuen Vergütungssystems erhalten, wobei ihre Arbeitsverträge auf eine Anlage 1 Bezug nehmen, die eine Eingruppierung in Tourenklasse 3 bestimmt. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob den jeweiligen Arbeitsverträgen diese Anlage 1 tatsächlich beigefügt war. Nach anfänglichen Schwierigkeiten in der technischen Umsetzung wurde das Vergütungssystem erstmals für die Juniabrechnung 2009 zugrunde gelegt. Die Mitarbeiter mit Neuverträgen erhielten zur Erläuterung ihrer Juniabrechnung ein mit „Zu Ihrer Lohnabrechnung ab Juni 2009“ überschriebenes Schreiben vom 10.07.2009 (Bl. 158 - 159 d. A.).

Am 12.06.2009 fand erstmals eine Betriebsratswahl im Betrieb der Arbeitgeberin statt, aus der der Antragsteller hervorging, der sich am 19.06.2009 konstituierte.

Nach erfolgloser Aufforderung mit Schreiben vom 21.09.2012 hat der Betriebsrat das vorliegende Beschlussverfahren mit den Anträgen eingeleitet, die Arbeitgeberin zu verpflichten, es zu unterlassen, ein abweichendes Vergütungssystem ohne vorherige Einholung der Zustimmung des Betriebsrats oder Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats durch die Einigungsstelle einzuführen, und für den Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld anzudrohen. Im Zeitpunkt der konstituierenden Sitzung des Betriebsrats am 19.06.2009 seien allgemeine Regelungen, nach denen die Mitarbeiter vergütet bzw. welche Zustelltouren mit welcher Vergütung bezahlt werden, seitens der Arbeitgeberin nicht eingeführt gewesen. Der Betriebsrat habe daher gem. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG ein Mitbestimmungsrecht, das nicht gewahrt wurde und werde, weshalb ein grober Verstoß gegen das Gesetz vorliege und der geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus § 23 Abs. 3 BetrVG begründet sei.

Die Arbeitgeberin hat ihren Zurückweisungsantrag damit begründet, dass ein Verstoß gegen ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht vorliege. Zu dem Zeitpunkt, als sich der Betriebsrat erstmals konstituiert habe, hätte sie das neue Vergütungssystem bereits eingeführt. So sei in den Arbeitsverträgen der im Frühjahr 2009 eingestellten Arbeitnehmer das neue Vergütungsmodell vereinbart worden; danach sei nach anfänglichen Schwierigkeiten ab Juni 2009 auch tatsächlich abgerechnet worden.

Das Arbeitsgericht hat nach Beweisaufnahme über die nicht mehr streitige Frage, ob Anfang 2009 die Gesellschafterin der Arbeitgeberin die Tabelle mit den unterschiedlichen Vergütungsgruppen (Anl. AG 4 = Bl. 133 d. A.) mit der Anweisung zur Umsetzung an die Arbeitgeberin übergeben habe, die Anträge abgewiesen. Es bestehe kein Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG, gegen das die Arbeitgeberin habe verstoßen können, weil das streitige Vergütungsmodell Anfang 2009 eingeführt worden sei und der Betriebsrat zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestanden habe. Dieser am 02.07.2013 verkündete Beschluss ist dem Verfahrensbevollmächtigten des Betriebsrats am 10.12.2013 zugestellt worden. Er enthält folgende Rechtsmittelbelehrung:

 „Gegen diesen Beschluss kann der Antragsteller Beschwerde einlegen.  Die Beschwerde muss innerhalb einer Notfrist von einem Monat ab Zustellung dieses Beschlusses schriftlich beim

Landesarbeitsgericht München Winzererstraße 104 80797 München

eingelegt werden.

Die Beschwerde muss innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Beschlusses schriftlich begründet werden.

Die Beschwerdeschrift und die Beschwerdebegründungsschrift müssen jeweils von einem bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsanwalt unterzeichnet sein. Sie können auch von dem Bevollmächtigten einer Gewerkschaft, eines Arbeitgeberverbandes oder eines Zusammenschlusses solcher Verbände unterzeichnet werden, wenn sie für ein Mitglied eines solchen Verbandes oder Zusammenschlusses oder für den Verband oder den Zusammenschluss selbst eingelegt wird.

Mitglieder der genannten Verbände können sich auch durch den Bevollmächtigten eines anderen Verbandes oder Zusammenschlusses mit vergleichbarer Ausrichtung vertreten lassen.

Das Landesarbeitsgericht bittet, alle Schriftsätze in dreifacher Fertigung einzureichen.“

Mit Schriftsatz vom 09.01.2014, eingegangen beim Landesarbeitsgericht am selben Tage, hat der Betriebsrat Beschwerde gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts eingelegt. Nach Hinweisschreiben des Landesarbeitsgerichts München vom 03.02.2014, dass die Beschwerdefrist gem. §§ 87 Abs. 2 Satz 1, 66 Abs. 1 Satz 2 ArbGG am 02.01.2014 abgelaufen und die am 09.01.2014 eingegangene Beschwerde verspätet erfolgt sei, hat der Betriebsrat mit Schriftsatz vom 10.02.2014, beim Landesarbeitsgericht am selben Tage eingegangen, Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand der Frist zur Einlegung der Beschwerde beantragt und dies u. a. mit der Rechtsmittelbelehrung des Beschlusses begründet, die falsch sei. Ebenfalls am 10.02.2014 hat er die Beschwerde begründet.

Der Unterlassungsanspruch des Betriebsrats sei zu bejahen, weil bei der Arbeitgeberin bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein verallgemeinerungsfähiges Vergütungssystem existiere, innerhalb dessen festgelegt worden sei, welche konkrete Tour und Tätigkeit welcher Tourengruppe/Vergütungsgruppe nach objektiven Tatsachen zuzuordnen sei. Für die Einführung eines Vergütungssystems genüge nicht allein die Einführung neuer Vergütungsgruppen und die arbeitsvertragliche Vereinbarung, dass ein Arbeitnehmer einen bestimmten Betrag erhalte. So könne der Arbeitnehmer bei Änderungen seiner Tätigkeit nicht anhand abstrakter genereller Regelungen bestimmen, welche Vergütung ihm für welche Tätigkeit zustehe. Zudem begehre der Betriebsrat im Rahmen der Zwischenfeststellungsklage die Feststellung, dass die Vergütungsvereinbarungen der Arbeitgeberin mit den Arbeitnehmern gem. § 134 BGB nichtig seien, weil sie gegen das Mitbestimmungsrecht, § 4 Abs. 1 TzBfG und den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz verstießen. Der Betriebsrat habe aufgrund seiner Pflicht, die Einhaltung der Gesetze zu überwachen, das Rechtsschutzbedürfnis feststellen zu lassen, dass die von der Arbeitgeberin getroffenen Vereinbarungen - soweit sie tatsächlich vor der konstituierenden Sitzung des Betriebsrats am 19.06.2009 stattgefunden hätten - nichtig seien.

Der Betriebsrat beantragt:

1. Der Beschluss des Arbeitsgerichts München vom 02.07.2013 wird abgeändert.

2. Die Beteiligte zu 2) wird verpflichtet, zu unterlassen, ein abweichendes Vergütungssystem ohne vorherige Einholung der Zustimmung des Betriebsrats oder der Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats durch die Einigungsstelle einzuführen.

3. Für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die in dem Antrag zu 2) genannte Verpflichtung - bezogen auf jeden einzelnen Arbeitnehmer - wird der Beteiligten zu 2) ein vom Gericht festzusetzendes Ordnungsgeld in Höhe von bis zu 10.000,- € angedroht.

Im Rahmen der Zwischenfeststellungsklage wird ferner beantragt:

4. Es wird festgestellt, dass die Vergütungsvereinbarung gemäß Anlage 1 zum Arbeitsvertrag für Anstellungsverhältnisse geringfügig Beschäftigter nichtig sind.

Die Arbeitgeberin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Der Betriebsrat habe keinen Unterlassungsanspruch darauf, dass das neue Vergütungsmodell ohne seine Zustimmung insgesamt nicht mehr angewandt werden dürfe. Denn bei Konstituierung des Betriebsrats sei das Vergütungsmodell schon eingeführt gewesen. Es habe zum Zeitpunkt der Konstituierung des Betriebsrats am 19.06.2009 lediglich um eine weitere Ausfüllung des Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG gehen können. Dies ergebe sich aus dem Umkehrschluss der Regelung, wonach das Mitbestimmungsrecht schon eingreife, wenn Entlohnungsgrundsätze und -methoden aufgestellt und eingeführt würden; umgekehrt sei ein kollektives Vergütungsschema nur dann mitbestimmungswidrig, wenn bei seiner Aufstellung durch den Arbeitgeber schon ein Betriebsrat bestanden habe. Die Zwischenfeststellungsklage sei unzulässig, da die begehrte Feststellung allein das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer betreffe und deshalb ein Rechtsschutzbedürfnis des Betriebsrats fehle.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze des Betriebsrats jeweils vom 10.02.2014 (Bl. 243 - 249 d. A. und Bl. 267 - 281 d. A.) und 19.03.2014 (Bl. 313 - 314 d. A.), den Schriftsatz der Arbeitgeberin vom 12.03.2014 (Bl. 307 - 310 d. A.) sowie auf die beigefügten Anlagen und die Niederschrift der Anhörung vor der Kammer vom 20.03.2014 (Bl. 315 - 317 d. A.) Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.

1. Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist nach § 87 Abs. 1 ArbGG statthaft. Dem Betriebsrat war gem. §§ 87 Abs. 2, 64 Abs. 6 ArbGG, 233 f. ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Frist zur Einlegung und Begründung der Beschwerde zu gewähren.

a) Die Fristen zur Einlegung und Begründung der Beschwerde hat der Betriebsrat versäumt, weil beide gem. §§ 87 Abs. 2, 66 Abs. 1 Satz 1 und 2 ArbGG spätestens mit Ablauf von fünf Monaten nach Verkündung des Beschlusses begannen (vgl. ErfK/Koch, 14. Aufl. 2014, § 66 ArbGG Rn. 17). Beide Fristen endeten deshalb am 02.01.2014. Tatsächlich hat der Betriebsrat die Beschwerde am 09.01.2014 eingelegt und diese am 10.02.2014 begründet.

b) Der Betriebsrat hat form- und fristgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, §§ 233, 234 Abs. 1 und 2, 236 Abs. 1 und 2 ZPO. Der Betriebsrat hat innerhalb der zweiwöchigen Wiedereinsetzungsfrist, die mit Zugang des gerichtlichen Hinweisschreibens vom 03.02.2014 begann, nämlich am 10.02.2014 Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bezug auf die Beschwerdefrist gestellt. Bezüglich der versäumten Beschwerdebegründungsfrist bedurfte es gem. § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO keines Antrags, weil der Betriebsrat ebenfalls am 10.02.2014 und damit innerhalb der Antragsfrist die Beschwerdebegründung eingereicht hat.

c) Dem Betriebsrat war Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er ohne sein Verschulden gehindert war, die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist einzuhalten, § 233 ZPO.

aa) Eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung rechtfertigt in der Regel die Annahme eines fehlenden Verschuldens des Prozessbevollmächtigten an der Fristversäumung. Denn der Rechtssuchende darf auf die Richtigkeit der einer gerichtlichen Entscheidung beigefügten Rechtsmittelbelehrung vertrauen. Nur wenn die Rechtsmittelbelehrung offensichtlich nicht geeignet ist, den Anschein der Richtigkeit zu erwecken, ist die Fristversäumung als schuldhaft anzusehen (vgl. BAG, Beschl. v. 06.04.2011 - 4 AZB 50/10 -, Rn. 11 und 16, n. v.; Beschl. v. 10.06.2010 - 5 AZB 3/10 -, Rn. 10, NZA 2010, 1086).

bb) Der Betriebsrat durfte auf die in der Sache unzutreffende Rechtsmittelbelehrung des Arbeitsgerichts vertrauen. Der in der Rechtsmittelbelehrung des anzufechtenden Beschlusses enthaltene Fehler ist nicht offenkundig. Es sind auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Betriebsrat selbst von der Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung ausgegangen ist oder ausgehen musste. Hiermit übereinstimmend hat die Arbeitgeberin den Antrag auf Wiedereinsetzung in Ansehung der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung als begründet angesehen.

2. Die Beschwerde ist aber unbegründet. Der Betriebsrat hat keinen Anspruch gegenüber der Arbeitgeberin auf Unterlassung, ein gegenüber dem Vergütungssystem von 1993 abweichendes Vergütungssystem ohne seine Zustimmung oder ihre Ersetzung durch die Einigungsstelle einzuführen.

a) Nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG hat der Betriebsrat, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, in Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere bei der „Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen“ und bei der „Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung“ mitzubestimmen. Sinn und Zweck des Mitbestimmungstatbestands ist die Lohnfindung unter dem Gesichtspunkt der Lohngerechtigkeit (vgl. Ricardi in Ricardi, BetrVG, 14. Aufl. 2014, § 87, Rn. 730). Das Mitbestimmungsrecht soll nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Arbeitnehmer vor einer einseitig an den Interessen des Unternehmens orientierten oder willkürlichen Lohngestaltung schützen. Es soll die Angemessenheit und Durchsichtigkeit des innerbetrieblichen Lohngefüges und die Wahrung der innerbetrieblichen Lohngerechtigkeit sichern (vgl. BAG (GS) Beschl. v. 03.12.1991 - GS 2/90 -, unter C. III. 1. a) d. Gr., NZA 1992, 749 f.; Beschl. v. 18.10.2011 - 1 ABR 34/10 - AP BetrVG 1972 § 87 Lohngestaltung Nr. 142, Rn. 19). „Lohngestaltung“ bedeutet die Festlegung abstrakt genereller (kollektiver) Grundsätze zur Lohnfindung (vgl. BAG, Beschl. v. 31.01.1984 - 1 AZR 174/81 -, AP BetrVG 1972 § 87 Lohngestaltung Nr. 15). Es geht dabei um abstrakte Grundsätze über die Art und Weise, nach denen sich die Bemessung des Arbeitsentgelts richtet. Neben der Grundentscheidung, nach Zeit oder Leistung zu vergüten, gehören zu diesen Grundsätzen die daraus folgenden Entscheidungen über die Ausgestaltung des jeweiligen Systems (vgl. BAG, Beschl. v. 30.10.2012 - 1 ABR 61/11 - Rn. 24, AP BetrVG 1972, § 87 Lohngestaltung Nr. 143). Deshalb erstreckt sich das Mitbestimmungsrecht auf den Aufbau von Vergütungsgruppen und die Festlegung der Vergütungsgruppenmerkmale (so BAG, Beschl. v. 31.01.1984, aaO; Beschl. v. 30.10.2012, aaO, Rn. 24; Beschl. v. 18.10.2011 - 1 ABR 25/10 -, Rn. 17, AP BetrVG § 87 Lohngestaltung Nr. 141).

b) Beteiligungsrechte des Betriebsrats und damit die Pflicht des Arbeitgebers, den Betriebsrat zu beteiligen, entstehen in dem Moment, in dem derjenige Tatbestand verwirklicht wird, an den das Beteiligungsrecht anknüpft (vgl. BAG, Beschl. v. 28.10.1992 - 10 ABR 75/91 - NZA 1993, 420). Aus dem Betriebsverfassungsgesetz lässt sich keine Verpflichtung des Arbeitgebers begründen, mit einer an sich beteiligungspflichtigen Maßnahme so lange zu warten, bis im Betrieb ein funktionsfähiger Betriebsrat vorhanden ist, und zwar auch dann nicht, wenn mit der Wahl eines Betriebsrats zu rechnen und die Zeit bis zu dessen Konstituierung absehbar ist. § 2 Abs. 1 BetrVG, der die Betriebspartner zur vertrauensvollen Zusammenarbeit verpflichtet, regelt die Art und Weise, wie die nach dem Betriebsverfassungsgesetz ohnehin bestehenden Rechte und Pflichten auszuüben sind; es werden dadurch für die Betriebspartner aber keine zusätzlichen Rechte und Pflichten begründet (vgl. BAG, Beschl. v. 28.10.1992, aaO; ebenso BAG, Urt. v. 23.08.1984 - 6 AZR 520/82 - NZA 1985, 556, 567). Es ist allein Sache der Belegschaft, dafür zu sorgen, dass ein Betriebsrat gebildet wird, durch den sie ihre betriebsverfassungsrechtlichen Rechte gegenüber dem Arbeitgeber wahrnehmen kann. Tut sie dies nicht oder nicht rechtzeitig, so muss sie die daraus folgenden betriebsverfassungsrechtlichen Nachteile hinnehmen (vgl. BAG, Urt. v. 23.08.1984, aaO unter I. 5. a) d. Gr.). In einem betriebsratslosen Betrieb muss der Arbeitgeber deshalb vor Beginn der Amtszeit keine Beteiligungsrechte des Betriebsrats beachten, selbst wenn ihm bekannt ist, dass eine Betriebsratswahl ansteht (so Fitting u. a., BetrVG, 30. Aufl. 2014, § 21 Rn. 14 und § 111 Rn. 34; ErfK/Kania, 14. Aufl. 2014, § 111 BetrVG Rn. 6; Annuß in Ricardi, BetrVG, 14. Aufl. 2014, § 111 Rn. 27 m. w. N.).

c) Im Anschluss an diese Grundsätze steht dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG jedenfalls in Bezug auf die grundsätzliche Einführung der Tourengruppen unter Ablösung des bisherigen Lohnstückmodells zuzüglich Zulagen für Beilagen nicht zu.

Anfang 2009 haben die Gesellschafter der Arbeitgeberin deren Geschäftsführung zur Einführung des neuen Vergütungssystems angewiesen. Der Betriebsrat wurde erst am 12.06.2009 gewählt und hat sich erst am 19.06.2009 konstituiert. Die Arbeitgeberin konnte mithin Anfang 2009 einen Betriebsrat hinsichtlich der Frage, ob die Vergütung der Zusteller durch einen Stücklohn in Verbindung mit Zulagen für Werbeprospekte oder durch die Bildung von Tourengruppen mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden gerechter sei, nicht beteiligen. Im Anschluss an die vorstehenden Ausführungen musste sie mit dieser Entscheidung auch nicht warten, selbst wenn, was nicht vorgetragen worden ist, Anfang 2009 die Wahl eines Betriebsrats bereits beabsichtigt und dies der Arbeitgeberin bekannt war. Diese Auffassung führt im vorliegenden Fall auch nicht zu einer Umgehung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Es liegt kein allgemeiner „Vorratsbeschluss“ der Arbeitgeberin vor, irgendwann einmal ein neues Vergütungssystem einführen zu wollen, wie der Betriebsrat in der mündlichen Anhörung vor dem Landesarbeitsgericht eingewandt hat. Im Zeitpunkt der Konstituierung des Betriebsrats am 19.06.2009 lag nicht nur die Entscheidung zur Einführung eines neuen Vergütungssystems vor, sondern die Arbeitgeberin hatte bereits mit dessen Umsetzung begonnen: So hatte sie das neue Vergütungssystem mit den im Jahr 2009 neu eingestellten Arbeitnehmern vereinbart und seit Frühjahr 2009 in das Betriebssystem einzupflegen versucht; nach anfänglichen Schwierigkeiten war es ab dem 01.06.2009 voll funktionstüchtig und wurde für die Vergütung der neu eingestellten Arbeitnehmer unstreitig zugrunde gelegt. Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats lässt sich auch nicht aus dem Umstand begründen, dass im Zeitpunkt seiner Konstituierung am 19.06.2009 noch keine Vergütungsgruppenmerkmale festgelegt worden waren. Das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG entsteht bereits früher, nämlich mit der Entscheidung für ein auf Vergütungsgruppen basierendes Vergütungssystem, weil damit bereits die grundlegende Weichenstellung für das Vergütungssystem gelegt wird. So sieht § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG das Mitbestimmungsrecht bei der „Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen“ und nicht erst bei ihrer Anwendung vor. Bereits bei der grundsätzlichen Entscheidung für ein auf Vergütungsgruppen basierendes Vergütungssystem wäre der Betriebsrat seitens der Arbeitgeberin zu beteiligen, um dem Sinn und Zweck des Mitbestimmungsrechts, die Vergütung unter dem Gesichtspunkt der Lohngerechtigkeit zu bestimmen, möglichst effektiv zu gewährleisten. Umgekehrt müsste die Arbeitgeberin im Widerspruch zu den vorstehenden Ausführungen ggf. die grundsätzlich beteiligungspflichtige Maßnahme der Aufstellung von Vergütungsgruppen rückgängig machen, obwohl eine Wartepflicht bis zur Konstituierung des Betriebsrats nicht besteht.

Ein Beteiligungsrecht des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG ist deshalb im vorliegenden Fall nicht zu bejahen. Ob es teilweise, etwa im Hinblick auf die Festlegung der Vergütungsgruppenmerkmale bestehen würde, brauchte nicht entschieden zu werden, weil darauf nicht das Rechtsschutzbegehren des Betriebsrats gerichtet war, §§ 87 Abs. 2, 64 Abs. 6 ArbGG, 308 ZPO. Der Betriebsrat behauptet ein Mitbestimmungsrecht in Bezug auf die grundsätzliche Ablösung des Lohnstückmodells zuzüglich Zulagen durch das Tourengruppensystem. Mangels Mitbestimmungsrechts war sowohl der allgemeine Unterlassungsanspruch als auch derjenige aus § 23 Abs. 3 BetrVG unbegründet. In der Folge war auch der Antrag auf Androhung eines Ordnungsgeldes unbegründet.

3. Der Antrag auf Feststellung, dass die Vergütungsvereinbarung gem. Anlage 1 zum Arbeitsvertrag für Anstellungsverhältnisse geringfügig Beschäftigter nichtig sei, ist unzulässig. Für den Antrag fehlt dem Betriebsrat die Antragsbefugnis.

a) Im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren ist ein Beteiligter nur insoweit antragsbefugt, wie er eigene Rechte geltend macht. Die Antragsbefugnis ist nach den Regeln über die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens nach Maßgabe des § 81 Abs. 1 ArbGG zu bestimmen. Regelmäßig kann nur derjenige ein gerichtliches Verfahren einleiten, der vorträgt, Träger eines streitbefangenen Rechts zu sein. Die Antragsbefugnis im Beschlussverfahren dient dazu, Popularklagen auszuschließen. Deshalb ist im Beschlussverfahren die Antragsbefugnis nur gegeben, wenn der Antragsteller durch die begehrte Entscheidung in seiner eigenen betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsposition betroffen wird. Dies ist regelmäßig nur dann der Fall, wenn er eigene Rechte geltend macht und dies nicht von vornherein als gänzlich aussichtslos erscheint (vgl. BAG, Beschl. v. 20.05.2008 - 1 ABR 19/09 - Rn. 14, NZA-RR 2009, 102).

b) Mit dem Antrag zu 4.) nimmt der Betriebsrat nicht eigene betriebsverfassungsrechtliche Rechte wahr, sondern begehrt die Feststellung der Nichtigkeit der Vergütungsvereinbarung aus den Arbeitsverträgen der Arbeitnehmer. Mit der Pflicht zur Überwachung der Einhaltung gesetzlicher Vorschriften geht nicht die Befugnis zur Wahrnehmung der betroffenen Individualinteressen einher (vgl. BAG, aaO, Rn. 14).

III.

Eine Entscheidung über die Kosten war nicht zu treffen, weil für dieses Verfahren Kosten nicht erhoben werden, §§ 2 Abs. 2 GKG, 2 a Abs. 1 ArbGG.

IV.

Die Rechtsbeschwerde war nach §§ 78 Satz 2, 72 Abs. 2 ArbGG zuzulassen, weil eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage, ob ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG besteht, wenn er sich vor Festlegung der Vergütungsgruppenmerkmale konstituiert, nicht vorliegt.



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