Landesarbeitsgericht Hessen

Beschluss vom - Az: 12 TaBV 46/11

Tat- und Verdachtskündigung einer Spielbankangestellten wegen Jeton-Klau

Ein vom Arbeitnehmer begangener Diebstahl zu Lasten des Arbeitgebers ist immer ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB und berechtigt den Arbeitgeber in der Regel zur fristlosen Kündigung.
Eine Verdachtskündigung ist unwirksam, wenn der Arbeitgeber nicht alle zumutbaren Anstrengungen unternommen hat, den Sachverhalt aufzuklären.

Im vorliegenden Fall wurde eine Arbeitnehmerin, welche in der Spielbank des Arbeitgebers als "Croupier" arbeitet und Betriebsratsmitglied ist, beschuldigt, einen Jeton mit einem Wert von 100 € von einem Roulettetisch an sich genommen zu haben. Der Vorwurf stammte von einer Service-Mitarbeiterin, die den dunkelblauen Rand des Jetons zwischen den ungewöhnlich angewinkelten Fingern der Arbeitnehmerin gesehen haben will. Bei dem Gespräch zwischen Arbeitgeber und beschuldigter Arbeitnehmerin am nächsten Tag trug die Arbeitnehmerin eine Weste, deren Eingriffstasche vertragswidrig nicht zugenäht war. Das Ansehen der Kameraaufnahmen ergab, dass die betreffende Arbeitnehmerin zum angeblichen Tatzeitpunkt ungewöhnliche Körperhaltungen eingenommen bzw. -bewegungen durchgeführt hat. Zum angeblichen Tatzeitpunkt waren noch zwei weitere Croupiers, ein Tischchef, eine Saalaufsicht sowie ein Aufsichtsbeamter an dem betreffenden Roulettetisch tätig. Der Betriebsrat widersprach der Kündigung.

Auch in zweiter Instanz sind die Beweiserhebungen des Arbeitgebers als ungenügend in Bezug auf eine Tatkündigung gewertet worden. Die ungewöhnlichen Körperhaltungen und- bewegungen könnten teilweise als Ausgleichsbewegungen wegen langem Sitzen verstanden werden; das Tragen der Weste sei für den angeblichen Tatzeitpunkt nicht nachgewiesen. Die Aussage der Service-Mitarbeiterin genüge zudem nicht, da die schwachen Lichtverhältnisse sowie die Entfernung zur beschuldigten Arbeitnehmerin von ca. 2,30 m das genaue Erkennen des Randes eines dunkelblauen Jetons schwierig mache. Eine Verdachtskündigung scheitere jedenfalls daran, dass der Arbeitgeber die fünf anderen Mitarbeiter am Roulettetisch nicht befragt hat.

Tenor

Die Beschwerde der Beteiligten zu 1.) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 25. Januar 2011 - 10/2 BV 2/10 - wird zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die antragstellende Arbeitgeberin (Beteiligte 1) begehrt die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats (Beteiligter 2) zur außerordentlichen Kündigung, fristlos sowie hilfsweise mit sozialer Auslauffrist, des Betriebsratsmitglieds Frau A (Beteiligte 3).

Die Arbeitgeberin betreibt die Spielbank in B, in der etwa 100 Mitarbeiter beschäftigt sind. Die Beteiligte 3) trat am 1.09.1999 zu ihr in ein Arbeitsverhältnis, zunächst bis 2006 als studentische Croupier-Aushilfe und danach als Croupier in Festanstellung. Sie ist Mitglied des bei der Spielbank bestehenden Betriebsrats.

In der Nacht vom 18./19.06.2010 versah die Beteiligte 3) ihren Dienst am Roulett-Tisch Nr. 4. In der Zeit von 3.45 - 4.00 Uhr arbeitete sie dabei auf der Position „rechter Kesselcroupier“, zu dessen Aufgaben u.a. das Sortieren der Masse der im vorhergehenden Spiel verlorenen Jetons gehört. Zum Sortieren der Masse gibt es zwei Techniken, das Picken und das Aufschütteln. Beim Picken werden mit den Fingern beider Hände aus der gemischten Masse die Jetons in der Reihenfolge ihrer Wertigkeit, beginnend mit der höchsten, herausgepickt. Beim Aufschütteln werden die Jetons der nur noch aus einer Jetonsorte bestehenden Masse mit beiden Händen hochgeschüttelt und dann als Stapel auf dem Brett abgelegt. Außer der Beteiligten 3) waren zu der Zeit noch zwei weitere Croupiers (Kopfcroupier u. Zahlcroupier), der Tischchef, ein staatlicher Überwachungsbeamter und ein Mitarbeiter der Saalleitung am Roulett-Tisch Nr. 4 beschäftigt. 2,3 m entfernt versah die Zeugin C ihren Dienst als studentische Saalservice-Aushilfe und beobachtete den Tisch.

Der Rouletttisch wird von einer Kamera hinter der Sitzposition des Tischchefs und zwei weiteren Kameras jeweils in den beiden Lampenschirmen etwa 1,30 m oberhalb der Tischkante videoüberwacht. Darüber hinaus wird der gesamte Saal von vier Kameras an der Decke überwacht. Die Videoüberwachung war im Zeitpunkt des Vorfalls in einer Betriebsvereinbarung „Spielüberwachung per Video“ vom Februar 2000 Bl. 301, 302 d.A.) geregelt. Diese wurde im Jahr 2007 gekündigt, bis zum Juni 2010 jedoch nicht durch eine wirksame Folgeregelung ersetzt. Die Regeln für das Französische Roulette hat die Arbeitgeberin in der Qualitätsmanagement-Dokumentation vom 28.04.2005 (Bl. 205-209 d.A.) niedergelegt.

Am 20.06.2010 abends berichtete die Zeugin C der Arbeitgeberin, dass sie beobachtet habe, dass die Beteiligte 3) am 19.06.2010 zwischen 3.45 und 4.00 Uhr morgens einen blauen 100er-Jeton entwendet habe. Am 21.06.2010 rief die Arbeitgeberin die Beteiligte 3) in das Büro des Geschäftsführers und konfrontierte sie mit dem Vorwurf. Sie wies sie darauf hin, dass sich die Beobachtungen der Zeugin C mit den vom Geschehen am Spieltisch gemachten Videoaufzeichnungen bis auf den Umstand deckten, dass im Film das ihr von der Zeugin geschilderte mehrmalige Aufblitzen des 100er Jetons nicht zu sehen sei. Der Verlauf und der weitere Inhalt des Gesprächs sind zwischen den Parteien weitgehend streitig. Die Beteiligte 3) trug bei dem Gespräch eine Weste, deren Außentaschen entgegen der einschlägigen Vorschrift in der Betriebsvereinbarung nicht zugenäht waren.

Am 25.06.20110 beantragte die Arbeitgeberin beim Betriebsrat die Zustimmung zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung der Beteiligten 3) wegen der Begehung und des Verdachts des Diebstahls eines 100er-Jetons. (Bl. 33 - 36 d. A.). Die Kündigung war sowohl fristlos als auch mit sozialer Auslauffrist vorgesehen. Der Betriebsrat verweigerte mit Schreiben vom 27.06.2010 (Bl. 37 d. A.) seine Zustimmung. Die Arbeitgeberin hat am 01.07.2010 ihren Antrag auf Zustimmungsersetzung beim Arbeitsgericht Wiesbaden eingereicht.

Zur Ergänzung des weiteren unstreitigen Sachverhalts, des Vorbringens der Beteiligten 1) bis 3) in erster Instanz sowie der vor dem Arbeitsgericht gestellten Anträge wird auf Ziffer I. der Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen (Bl. 222 - 227 d.A.).

Das Arbeitsgericht Wiesbaden nach Vernehmung der Zeugin C, für deren Aussage auf Bl. 215R - 216R d.A. Bezug genommen wird, mit Beschluss vom 25.01.2011 den Antrag auf Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung der Beteiligten 3) zurückgewiesen, weil es nach Würdigung der Aussage der Zeugin C zu dem Schluss gekommen ist, dass die Beweisaufnahme nicht ergeben habe, dass zwischen den Fingern der Beteiligten 3) tatsächlich der Rand eines 100er-Jetons herausgeblitzt und sie den Jeton an sich genommen habe. Insbesondere das In-die-Westentasche-Gleiten des Jetons sei für die Zeugin gar nicht einsehbar gewesen. Die Verdachtskündigung scheitere schon daran, dass die Arbeitgeberin nicht alle ihr zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen habe. Dazu hätte sie hier auch die anderen Mitarbeiter, die zur selben Zeit am Spieltisch ihren Dienst versahen, befragen müssen. Für die nähere Begründung der Entscheidung wird auf Ziffer II. der Gründe des arbeitsgerichtlichen Beschlusses Bezug genommen (228 - 232 d. A.).

Der Beschluss des ersten Rechtszuges ist der Arbeitgeberin am 25.02.2011 zugestellt worden. Die Arbeitgeberin hat gegen den Beschluss am 24.03.2011 Beschwerde eingelegt und diese am 26.04.2011 begründet.

Die Arbeitgeberin ist der Ansicht, das Arbeitsgericht habe die Anforderungen an die Verdachtskündigung überspannt. Den erhobenen Zeugenbeweis habe es falsch gewürdigt und dem Beweisangebot Einsicht in die Videoaufnahme sei es zu Unrecht nicht nachgegangen. Dort, behauptet sie, sei in Stützung ihres Vorwurfs zu sehen, dass die Beteiligte 3) beim Sortieren der Jetons nach einem Spiel einen 100er-Jeton mit dem kleinen Finger und dem Ringfinger der linken Hand an die Handinnenseite gedrückt und ihn dort auch während der weiteren Sortierverrichtungen verborgen gehalten habe. Nach Abschluss des Sortiervorgangs habe sie ihre linke Hand mit noch immer angewinkelten Fingern vor ihrem Körper nach rechts geführt und sie vor sich auf der Tischplatte abgelegt. Dann habe sie den Oberkörper kurz weit nach vorn gebeugt und ihre linke Hand an die rechte Seite ihres Körpers geführt, so dass sie in Höhe der rechten Außentasche ihrer Weste platziert war. Beim Zurückführen des linken Armes auf die linke Körperseite sei die linke Hand dann geöffnet und mithin leer gewesen. Sie behauptet, dass die Beteiligte 3) zu dem Zeitpunkt eine Weste getragen habe, deren Taschen vorschriftswidrig nicht zugenäht waren. So könne mit der Videoaufnahme in Verbindung mit der Aussage der Zeugin C gezeigt werden, dass die Beteiligte 3) jedenfalls den Gewahrsam der Arbeitgeberin gebrochen habe, indem sie den Jeton an einen Platz - ob Westentasche oder andere Stelle am Körper - verbracht habe, der der Arbeitgeberin weder bekannt noch zugänglich war. Ein Beweisverwertungsverbot habe hinsichtlich der Videoaufzeichnungen zum Zeitpunkt des Vorfalls nicht bestanden. Die Unwirksamkeit des Spruchs der Einigungsstelle sei erst mit der die Nichtzulassungsbeschwerde der Arbeitgeberin zurückweisenden Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 26.08.2010 (1 ABN 45/10) rechtskräftig festgestellt gewesen. Im Übrigen sei die Videoanlage gegenüber der Ausstattung und dem technischen Stand im Jahre 2000 später nur leicht modifiziert worden. In einem gerichtlichen Vergleich vom 28.10.2010 (ArbGer Wiesbaden - 5 BVGa 3/10) hätten sich die Betriebsparteien zudem darauf verständigt, den - unwirksamen - Spruch der Einigungsstelle bis auf einige Änderungen, die die Einsichtnahme in Livebilder und die Dauer der Speicherung betrafen, weiter gelten zu lassen.

Hinsichtlich der Verdachtskündigung vertritt die Arbeitgeberin die Ansicht, ihre Aufklärungspflicht durch Unterlassen der Anhörung der anderen Croupiers, des Tischchefs, der Mitarbeiter der Saalleitung und der Finanzaufsicht nicht schuldhaft verletzt zu haben. Es könne nicht unterstellt werden, dass eine dieser Personen die Beteiligte 3) bei dem geschilderten vertragswidrigen Verhalten beobachtet habe. Wäre das der Fall gewesen, wären sie nämlich nach den Regeln des Hauses verpflichtet gewesen, über entsprechende Wahrnehmungen sofort zu informieren. Auch eine Entlastung der Beteiligten 3) wäre durch ihre Befragung nicht zu erwarten gewesen, weil keine dieser Personen wegen ihrer eigenen Aufgaben die Beteiligte 3) ununterbrochen beobachten konnte.

Zur Ergänzung des Vorbringens der Arbeitgeberin in der Beschwerdeinstanz wird auf die Beschwerdebegründung vom 26.04.2011 und den Schriftsatz vom 27.01.2012 (Bl. 283 - 296 u. 359 - 368 d.A.) Bezug genommen.

Die Arbeitgeberin beantragt,

unter Abänderung des Beschlusses des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 25.01.2011, Az.: 10/2 BV 2/10, die Zustimmung des Betriebsrats zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung der Beteiligten 3) zu ersetzen,

hilfsweise

unter Abänderung des Beschlusses des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 25.01.2011 (10/2 Ca 2/10) die Zustimmung des Betriebsrats zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist der Beteiligten 3) zu ersetzen.

Der Betriebsrat und die Beteiligte 3) beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Der Betriebsrat und die Beteiligte 3) verteidigen den angefochtenen Beschluss. Daneben bestreitet die Beteiligte 3) weiter den ihr gegenüber erhobenen Diebstahlsvorwurf. Es sei weder biomechanisch noch ablauftechnisch vorstellbar, einen Jeton etwa zwei Minuten lang mit angewinkelten Fingern zu halten und dabei gleichzeitig beidhändig die Masse zu sortieren. Sie behauptet, die Taschen der Weste, die sie am 19.06.2010 getragen habe, seien zugenäht gewesen. Zur Verdachtskündigung behauptet sie, dass ihre Anhörung am 21.06. 2010 so verlaufen sei, dass sie von dem gegenüber ihr gehegten Vorwurf vorher nicht informiert und ihr im folgenden Gespräch mit einer Strafanzeige gedroht wurde, um sie zum Abschluss eines Aufhebungsvertrages oder zu einer Eigenkündigung zu zwingen. Weiter behauptet sie, dass im Rahmen eines großen Umbaus im Jahre 2008 die Rouletttische in den damaligen Bereich des Restaurationsbetriebs umpositioniert und die bisherigen Kameras abgebaut und durch neue, hochauflösende ersetzt worden seien. Ergänzend sei erstmals eine statische Spieltisch- und Übersichtskamera eingebaut. Die Rouletttische würden seitdem von einer neu angebrachten bzw. zwei neuen Domekameras überwacht. Dazu legt sie die Gerätestandslisten Stand 2002 und Stand 2008 vor (Bl. 375 - 378 d.A.).

Der Betriebsrat behauptet, im Jahre 2007/2008 sei eine neue, völlig andere Videoanlage installiert worden sei. Hard- und Software seien komplett ausgetauscht worden. Ansonsten schließt er sich den Ausführungen der Beteiligten 3) an.

Zur Ergänzung des Beschwerdevorbringens des Betriebsrats und der Beteiligten 3) wird auf deren Schriftsätze vom 26.07.2011, 02.08.2011, 30.01.2012 u. 27.03.2012 (Bl, 310 - 312, 313- 315, 369 - 370 u. 385 - 386 d.A.) Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde der im ersten Rechtszug unterlegenen Beteiligten 1) ist gemäß § 87 Abs. 1 ArbGG statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt und ordnungsgemäß begründet worden (§§ 87 Abs. 2, 89 86 Abs.1 ArbGG, 518, 519 ZPO)

Die Beschwerde bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg, weil das Arbeitsgericht zu Recht Haupt- und Hilfsantrag zurückgewiesen hat. Die gemäß §§ 103 BetrVG, 15 Abs. 1 KSchG erforderliche Zustimmung zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Betriebratsmitglieds Frau A (Beteiligte 3) konnte mangels Nachweises eines wichtigen Grundes im Sinne des § 626 Abs.1 BGB nicht ersetzt werden. Das gilt in gleicher Weise für die beabsichtigte fristlose Kündigung wie die außerordentliche Kündigung mit sozialer Auslauffrist als Tat- und als Verdachtskündigung.

1. Die Kündigung eines Betriebsratsmitglieds ist nach § 15 KSchG unzulässig, es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen, und dass die nach § 103 BetrVG erforderliche Zustimmung des Betriebsrats vorliegt oder durch gerichtliche Entscheidung ersetzt wird. Die Zustimmung ist zu ersetzen, wenn das Gericht einen wichtigen Grund als gegeben ansieht. Für die Annahme eines wichtigen Grundes müssen Tatsachen vorliegen, aufgrund derer der Arbeitgeberin die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen nicht mehr zugemutet werden kann. Bei der Zumutbarkeitsprüfung ist darauf abzustellen, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum ersten möglichen Entlassungstermin aufgrund einer ein Jahr nach Ablauf der Amtszeit des Betriebsratsmitglieds ausgesprochenen ordentlichen Kün-digung noch zugemutet werden kann (BAG Beschluss v. 10.02.1999 - 2 ABR 31798 - EzA § 15 KSchG Nr. 47; 27.09.2001 EzA § 15 KSchG Nr. 54).

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (z. B. BAG Urteile v. 20.08.1997 u. 6.12.2001 EzA § 626 BGB Verdacht einer strafbaren Handlung Nr. 7 u. 10) kann zudem nicht nur eine erwiesene Vertragsverletzung, sondern auch schon der schwerwiegende Verdacht einer strafbaren Handlung oder einer sonstigen schwerwiegenden Verfehlung einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung darstellen. Eine Verdachtskündigung liegt dann vor, wenn der Arbeitgeber seine Kündigung damit begründet, gerade der Verdacht eines nicht (nicht erwiesenen) strafbaren bzw. vertragswidrigen Verhaltens habe das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen zerstört. § 626 Abs. 1 BGB lässt eine Verdachtskündigung dann zu, wenn sich starke Verdachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen, wenn diese Verdachtsmomente geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauensverhältnis zu zerstören und wenn der Arbeitgeber alle ihm zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat.

Die Prüfung des wichtigen Grundes vollzieht sich stets in zwei voneinander zu trennenden Stufen. Zunächst muss ein bestimmter Sachverhalt festgestellt werden, der geeignet ist, einen wichtigen Grund abzugeben. Dann ist wertend zu untersuchen, ob unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die konkrete Kündigung gerechtfertigt ist, weil dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der - fiktiven - ordentlichen Kündigungsfrist nicht mehr zugemutet werden kann. Hier scheitert die Prüfung des wichtigen Grundes sowohl für die Tat- als auch für die Verdachtskündigung bereits auf der ersten Stufe.

2. Nach allgemeiner Ansicht ist ein vom Arbeitnehmer begangener Diebstahl immer als wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB an sich geeignet und berechtigt in der Regel zur fristlosen Kündigung. Hier hat sich der Vorwurf, die Beteiligte 3) habe zum Ende der Spätschicht am 19.06.2010 morgens zwischen 3.45 und 4.00 Uhr bei der Ausübung ihrer Tätigkeit als „Rechter Kesselcroupier“ einen 100er-Jeton entwendet, in der Beweisaufnahme nicht bestätigt. Das Arbeitsgericht ist nach der Vernehmung der Zeugin C und einer eingehenden Würdigung ihrer Aussage zu dem nicht zu beanstandenden Schluss gelangt, dass mit ihrer Aussage der Diebstahl nicht nachgewiesen werden konnte. Es hat näher begründete Zweifel daran ausgeführt, dass die Zeugin angesichts der Lichtverhältnisse zur Zeit des Geschehens auf die Entfernung vom 2,30 m Entfernung vom Tisch mit letzter Sicherheit davon ausgehen konnte, zwischen den Fingern der Beteiligten 3) einen dunkelblauen Jeton an seinem Rand erkannt zu haben. Auch hat es darauf abgestellt, dass der Moment, in dem die Beteiligte 3) den Jeton an sich genommen haben soll, für sie nicht einsehbar war, sondern es sich um eine reine Mutmaßung, abgeleitet aus der Fingerhaltung der Beteiligten 3), handelte. Das Beschwerdegericht sieht keine konkreten Anhaltspunkte in der Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts, die zu Zweifeln an der Richtigkeit der getroffenen Tatsachenfeststellung führen und Anlass für eine erneute Vernehmung der Zeugin geben könnten.

Ein weitere Beweiserhebung durch Betrachten der Videoaufzeichnungen der über dem Rouletttisch angebrachten Kameras war - jenseits der rechtlichen Bedenken wegen des Fehlens einer wirksamen Betriebsvereinbarung - nicht durchzuführen; denn ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn aus der Betrachtung der Aufnahmen ist ausgeschlossen, nachdem die Arbeitgeberin eingeräumt hat, dass weder das Halten eines Jetons mit Ring- und kleinem Finger der linken Hand noch der Moment, in dem die Beteiligte 3) den Jeton in ihre Westentasche habe gleiten lassen, zu sehen bzw. zu erkennen sei.

Die daneben vorhandenen, nach den Behauptungen der Arbeitgeberin auf den Videoaufzeichnungen sichtbaren, aber auch von der Zeugin C bereits bekundeten Indizien, insbesondere das Verhalten der Beteiligten 3) während des Sortierens der Masse vor dem letzten Spiel, können ebenfalls keinen Nachweis für die Entwendung des 100er-Jetons begründen. Hierzu ist die Beschwerdekammer zu denselben Wertungen und Schlussfolgerungen gelangt wie sie das Oberlandesgericht Frankfurt a.M. in seinem Beschluss vom 16.06.2011 (3 WS 711/11, Bl. 317 - 321 d.A.) bereits ausgeführt hat. Den Ausführungen ist nichts hinzuzufügen. Es heißt dort u.a.:

“Für den Umstand, dass die .. (Zusatz: Beteiligte 3) .. zwei Mal zwei oder drei 100-Jetons von der Seite des „linken Kesselcroupiers“ auf ihre Seite verlagert und dann teilweise wieder zurückgelegt hat, hat sie eine plausible Erklärung gegeben, nämlich, dass sie kurz vor Spielende bereits ein einheitliches Bild in der Ablage schaffen wollte. Mithin ist die fehlende spieltechnische Notwendigkeit dieses Vorgangs, auf die die..(Zusatz: Arbeitgeberin)..wesentlich abhebt, nicht so entscheidend. Es bleiben die ungewöhnliche Fingerhaltung ab der Rücklegung eines Teils der Jetons nach vorangegangener Handdrehung, das dadurch bedingte ungewöhnliche und teils vorschriftswidrige Sortieren (Picken auch der Jetons geringer Wertigkeit, statt sie mit beiden Händen aufzuschütteln, Stapeln der Jetons in der rechten statt der linken Hand), das Vorbeugen mit vorschriftswidrigem Ablegen des linken Unterarms ohne Abstreifen der Hand am Tisch und das Wiedereinnehmen der „normalen“ Handhaltung beim Wiederaufrichten und das Tragen einer Weste mit vorschriftswidrig nicht zugenähten Taschen am nächsten Tag.

Das Vorbeugen mit Abstützen des linken Unterarms kann indes durchaus einer Korrektur der Sitzhaltung gedient haben, auch wenn die...(Zusatz: Beteiligte 3)...diese zuvor auf andere Weise ausgeführt hat. Das Nichtabstreifen der Hand vor diesem Vorgang kann auf Nachlässigkeit beruhen, zumal das Verlassen des Tisches mit der linken Hand nur sehr kurzfristig erfolgte. Die Auffälligkeiten in der Bewegung der...(Zusatz: Beteiligten 3)...und die genannte Fingerhaltung mögen keinen spieltechnischen Grund gehabt haben, können aber auf einem momentanen Einfall beruhen. Einem solchen zu folgen, ist andererseits unprofessionell, was auch erklären würde, dass die...(Zusatz: Beteiligte 3)...sie nicht begründen konnte bzw. wollte. Dass sie hingegen auch am Tattag eine vorschriftswidrige Weste getragen hat, ist nicht nachweisbar“.

3. Die Verdachtskündigung scheitert bereits, wie das Arbeitsgericht richtig festgestellt hat, daran, dass die Arbeitgeberin nicht alle ihr zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen hat. Insbesondere angesichts der Umstände, dass weder die Zeugin C noch die Videoaufzeichnungen den Moment, in dem die Beteiligte 3) den Jeton eingesteckt haben soll und dass der Jeton später nicht gefunden wurde, war es zur Aufklärung unverzichtbar, auch die weiteren am Rouletttisch tätigen Mitarbeiter, die zwei Croupiers, den Tischchef, die Saalaufsicht sowie den Aufsichtsbeamten, sämtlich Personen mit geschulten Augen, für den in Frage stehenden Vorgang anzuhören. Angesichts der Tragweite des Vorwurfs und des geringen Aufwands, den die Anhörung dieser Personen erfordert hätte, ist kein Grund ersichtlich, diesen Erkenntnisquellen nicht nachzugehen und sich im Wesentlichen auf die Aussage der Zeugin C, der von allen anwesenden Mitarbeitern am wenigsten geschulten und erfahrenen, zu verlassen. Die Kammer geht z. B. davon aus, dass dem der Beteiligten 3) unmittelbar gegenüber sitzenden „linken Kesselcroupier“ aufgrund seiner größeren Nähe und seines geschulten Auges nur schwerlich entgehen wäre, dass sie einen 100er-Jeton unter den angewinkelten Fingern ihrer linken Hand gehalten hätte.

Ein gesetzlich begründeter Anlass für die Zulassung der Rechtsbeschwerde gem. §§ 92 Abs. 1, 72 Abs. 2 ArbGG war nicht ersichtlich.



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