Landgericht Hannover

Urteil vom - Az: 8 S 25/17

„Wilder Streik“ bei Tuifly: Keine Ausgleichszahlungen an Passagiere

Auch ein nicht gewerkschaftlich organisierter, betriebsinterner Streik (sog. „wilder Streik“) stellt einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung dar. Demnach entfällt der Anspruch der Passagiere auf Ausgleichszahlungen nach Art. 5 Abs. 1 lit c. i.V.m. Art. 7 Fluggastrechteverordnung in solch einem Fall.
(Redaktioneller Orientierungssatz)

Der von den Klägern gebuchte Flug von Kreta nach Stuttgart wurde gestrichen, weil sich eine große Zahl von Piloten der Beklagten krank gemeldet hatte. Diese massenhaften Krankmeldungen standen im zeitlichen Zusammenhang mit einer Entscheidung der Unternehmensführung der Fluggesellschaft über beabsichtigte Umstrukturierungen. Die Kläger wurden erst am Tage darauf befördert und hatten ihr Ziel mit einer rund 30-stündigen Verspätung erreicht. Nach Art. 5 Abs. 1 lit c. i.V.m. Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. b) Fluggastrechteverordnung (Verordnung (EG) 261/2004) hätten sie somit grundsätzlich einen Anspruch auf 400 € Entschädigung pro Fluggast. Tuifly hatte Zahlungen jedoch mit dem Argument abgelehnt, es habe sich um einen sog. „wilden Streik" des Personals gehandelt, der einen außergewöhnlichen Umstand darstelle. Nach Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechteverordnung sind bei außergewöhnlichen Umständen keine Entschädigung zu zahlen. Das AG Hannover hatte die Klage abgewiesen. Das LG Hannover hat die Berufung zurückgewiesen mit der Begründung, ein nicht gewerkschaftlich organisierter „wilder Streik" dieses Ausmaßes stelle einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne der Fluggastrechteverordnung dar, der für die Fluggesellschaft nicht beherrschbar gewesen sei. Damit habe die Airline nicht rechnen müssen, es müsse vielmehr auch einer Fluggesellschaft möglich sein, ihre Betriebsangehörigen über eine mögliche wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens zu unterrichten. Auch arbeitsrechtliche Maßnahmen hätten den konkreten Flugausfall nicht verhindern können, weil diese einige Tage in Anspruch genommen hätten; Abmahnungen oder Kündigungen wären in dieser Situation nicht zielführend gewesen. Es sei auch nicht feststellbar gewesen, dass sich die Annullierung des Fluges durch andere zumutbare Maßnahmen habe vermeiden lassen können.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Tenor

Die Berufung der Kläger gegen das am 23.03.2017 verkündete Urteil des Amtsgerichts Hannover - 509 C 13219/16 - wird zurückgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 800,- € festgesetzt.

Tatbestand

Die Kläger begehren Ausgleichszahlungen in Höhe von insgesamt 800,- € nach der Verordnung (EG) 261/2004 - Fluggastrechteverordnung - wegen der Annullierung eines Fluges am 06.10.2016.

Die Kläger buchten bei der Beklagten Flüge von Stuttgart nach Heraklion/Kreta hin- und zurück für insgesamt 502,96 €. Der Rückflug sollte am 6.10.2016 um 10.50 Uhr in Heraklion starten und um 13.00 Uhr in Stuttgart landen. Tatsächlich wurde der Flug mit der Flugnummer X3 4715 annulliert. Die Kläger wurden am 7.10.2016 gegen Mittag nach Stuttgart mit einer Ankunftsverspätung von über 30 Stunden befördert. Die Entfernung zwischen dem Startflughafen und dem Zielflughafen beträgt 1.977 km.

Die Kläger haben die seitens der Beklagten vorgetragenen betriebsinternen Vorgänge, die zur Behinderung des Flugverkehrs geführt haben sollen, mit Nichtwissen bestritten. Ein „wilder Streik“ habe nicht vorgelegen. Sie haben die Ansicht vertreten, die Vernehmung der Zeugin W. sei kein geeignetes Beweismittel. Die Beklagte könne sich nicht auf außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung berufen.

Die Beklagte hat behauptet, am Abend des 30.09.2016 (Freitag) sei bei der Beklagten eine interne Mitteilung in einem Management Letter erschienen, in dem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Beklagten über die Planungen zur zukünftigen Entwicklung des Unternehmens informiert worden seien. Noch am 30.09.2016 habe sich bei der Beklagten ein „Krisenstab der Arbeitnehmervertreter“ gebildet. In der Folgezeit hätten sich vermehrt Bedienstete des Cockpit- und Kabinenpersonals der Beklagten krankgemeldet. Die Beklagte habe für den 6.10. insgesamt 214 Flüge mit 185 Piloten und 347 Personen Kabinenpersonal geplant gehabt. Davon seien 115 Flüge auf sog. X3-Flüge entfallen, die mit 118 Piloten und 236 Personen Kabinenpersonal geplant worden seien. Am 6.10.2016 hätten insgesamt 280 Piloten und 603 Personen Kabinenpersonal Dienst gehabt. Von dieser Anzahl seien insgesamt 225 Piloten und 299 Personen Kabinenpersonal krankgemeldet gewesen. Am 06.10.2016 sei es deshalb zu zahlreichen Verspätungen und Annullierungen im Flugverkehr der Beklagten gekommen. Die Geschäftsleitung der Beklagte habe seit dem 4.10.2016 Verhandlungen mit dem Krisenstab der Arbeitnehmer geführt. Am Abend des 7. Oktober 2016 seien die Bediensteten über eine Verständigung informiert worden. Ab dem 9.10.2016 habe sich der Krankenstand wieder drastisch reduziert. Der normale Krankenstand betrage durchschnittlich bis zu 10 % des Personals.

Es habe sich um einen wilden Streik gehandelt. Die Beklagte bezieht sich auf Presseberichte, interne e-mail Schreiben und Mitteilungen in geschlossenen Facebook-Gruppen bzw. WhatsApp-Gruppen ihres Personals. Auf den Inhalt wird Bezug genommen.

Die Beklagte habe sofort alles in die Wege geleitet, um den Flugverkehr planmäßig aufrechtzuerhalten. Ab dem 02.10.2016 sei bei sämtlichen Airlines, die Flugzeuge des benötigten Standards unterhalten, sowie bei sämtlichen Brokern, die den europäischen Markt abdecken, nach Subchartern angefragt worden. Die Beklagte habe alle Subcharter eingekauft, die zu bekommen gewesen seien. Der streitgegenständliche Flug sei dann mit einem Subcharter der „Astra Airlines“ durchgeführt worden, der jedoch erst am Folgetag zur Verfügung gestanden habe. Am 6.10.2016 hätten von den ursprünglich geplanten 115 X3-Flügen letztlich 80 X3-Flüge mit Passagieren durchgeführt werden können, allerdings größtenteils mit erheblicher Verspätung. Von diesen Flügen seien 56 Flüge mit Subchartern durchgeführt worden.

Das Amtsgericht Hannover hat die Klage mit Urteil vom 23. März 2017, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird, abgewiesen.

Gegen das am 29.03.2017 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung der Kläger vom 02.05.2017, die sie mit Schriftsatz vom 29.05.2017 begründet haben. Die Kläger beanstanden, dass das Amtsgericht die Durchführung einer Beweisaufnahme nicht für erforderlich gehalten hat. Die behaupteten extremen Steigerungsraten bei den Krankmeldungen hätten nicht als allgemeinkundig angesehen werden dürfen. Zu Unrecht habe das Amtsgericht einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne der Fluggastrechteverordnung angenommen.

Die Kläger beantragen,

das am 23.03.2017 verkündete Urteil des Amtsgerichts Hannover - 509 C 13219/16 - aufzuheben und

die Beklagte zu verurteilen, an die Kläger jeweils 400,- EUR nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27.10.2016 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Für den weiteren Parteivortrag wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen. Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin W.. Für das Ergebnis wird auf das Sitzungsprotokoll vom 14.11.2017 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und somit zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.

Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zahlung von jeweils 400,00 EUR nach Art. 5 Abs. 1 lit c. i.V.m. Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. b) Fluggastrechteverordnung. Die Beklagte als ausführendes Luftverkehrsunternehmen kann sich nach Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechteverordnung darauf berufen, dass die Verspätung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären.

1. Das Amtsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass ein nicht gewerkschaftlich organisierter Streik in dem seitens der Beklagten dargelegten Ausmaß einen außergewöhnlichen Umstand darstellt.

a) Art 5 Abs. 3 Fluggastrechteverordnung enthält keine Definition des außergewöhnlichen Umstands. Nach dem Erwägungsgrund 14 der Verordnung können außergewöhnliche Umstände insbesondere bei politischer Instabilität, mit der Durchführung des betreffenden Fluges nicht zu vereinbarenden Wetterbedingungen, Sicherheitsrisiken, unerwarteten Flugsicherheitsmängeln und den Betrieb eines ausführenden Luftverkehrsunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten. In dem Erwägungsgrund 14 wird nicht unterschieden, ob es sich um einen organisierten oder um einen „wilden“ Streik handelt, ebenso wenig spielt es eine Rolle, ob der Streik Dritte oder Betriebsangehörige betrifft bzw. ob es sich um einen innerbetrieblichen Streik handelt. Dagegen fällt ein bei einem Flugzeug aufgetretenes technisches Problem, das zur Annullierung eines Fluges führt, grundsätzlich nicht unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung, es sei denn, das Problem geht auf Vorkommnisse zurück, die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens sind und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind (EuGH, Urt. v. 22.12.2008 - C 549/07).

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kennzeichnet den Begriff des außergewöhnlichen Umstands, dass es sich um einen Umstand handeln muss, der nicht dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entspricht, sondern außerhalb dessen liegt, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Es geht um die Erfassung von Ereignissen, die nicht mit dem Luftverkehr verbunden sind, sondern als - in der Regel von außen kommende - besondere Umstände seine ordnungsgemäße und planmäßige Durchführung beeinträchtigen oder unmöglich machen können, wobei es darum geht, ob das Hindernis aus den üblichen und erwartbaren Abläufen des Flugverkehrs herausragt. Dabei spielt es keine Rolle, in wessen Verantwortungsbereich die Ursache zuzuordnen ist, vielmehr ist relevant, dass die Umstände sich von denjenigen Ereignissen unterscheiden, mit denen typischerweise bei der Durchführung eines einzelnen Fluges gerechnet werden muss (BGH, Urt v. 21.08.2012 - X ZR 138/11 -). Danach kann ein Streik einen außergewöhnlichen Umstand darstellen, unabhängig davon, ob das eigene Personal oder andere Personen, wie Fluglotsen ihre Arbeit niederlegen (BGH, Urt. v. 21.08.2012 - X ZR 146/11).

Auch ein nicht gewerkschaftlich organisierter, betriebsinterner Streik fällt danach unter den Begriff des außergewöhnlichen Umstands und ist regelmäßig nicht beherrschbar (vergl. auch AG Hannover, Urt. v. 28.07.2017 - 420 C 1127/17 - nicht veröffentlicht). Jede Form einer umfangreicheren Arbeitsniederlegung entspricht nicht mehr dem gewöhnlichen Verlauf eines Betriebes.

b) Nach den seitens der Beklagten eingereichten Schriftstücken und der Vernehmung der Zeugin W. geht die Kammer davon aus, dass sich der Ausfall bei dem Cockpit-Personal und bei dem Kabinenpersonal am 6. Oktober 2016 derartig erhöht hatte, dass ein außergewöhnlicher Umstand im Sinne des Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechteverordnung vorlag. Am 6. Oktober 2016 waren von 280 diensthabenden Piloten 225 Piloten krankgemeldet. Bei dem diensthabenden Personal der Kabine von insgesamt 603 Personen lagen 299 Krankmeldungen vor. Dies folgt aus den Bekundungen der Zeugin W.. Die Zeugin W. hat dazu bekundet, im Nachgang den normalen Krankheitsstand ermittelt und die durchschnittlichen Monatswerte zusammengestellt zu haben. Danach seien in der Zeit von September 2014 bis September 2016 maximal 8 bis 10 % des Cockpitpersonals und maximal 10 bis 12 % des Kabinenpersonals, und zwar des insgesamt zur Verfügung stehenden Personals krankgemeldet gewesen. Die Beklagte habe ungefähr 450 Piloten sowie je nach Jahreszeit zwischen 900 bis 1.200 Personen in der Kabine beschäftigt.

Die Aussage der Zeugin erschien verlässlich, an ihrer Glaubwürdigkeit bestehen keine Zweifel. Auch wenn die Zeugin angegeben hat, in die Krankmeldungen selbst keine Einsicht genommen zu haben, sind ihre Wahrnehmungen, die sie persönlich gemacht hat, unter Berücksichtigung der seitens der Beklagten eingereichten Unterlagen und - unstreitigen - Pressemitteilungen geeignet, den Beweis für die hohe Anzahl der Krankmeldungen für den 6. Oktober zu erbringen. Die Zeugin hat angegeben, die Zahlen der Personalabteilung und der Crew-Planung abgeglichen und nochmals ausgezählt zu haben. Sie habe weitere Daten selbst erfasst, nachdem sie das Flugprogramm und die an sich vorgesehenen Flugpläne eingesehen habe. Dass der Zeugin tatsächlich bekannt war, welche Personen sich krankgemeldet hatten, ergibt sich aus ihrer Aussage zu dem hier streitgegenständlichen Flug, zu dem sie ausgesagt hat, dass sich der Pilot am 05. Oktober um 14.40 Uhr UTC und der Copilot ebenfalls am 05.10. um 16.07 UTC krankgemeldet hätten. Außerdem sei auch die erste Kabinenfachkraft krankgemeldet gewesen. Das dann eingesetzte Flugzeug der Astra Airlines sei zunächst für Flüge von Heraklion nach Frankfurt und zurück eingesetzt worden und dann für Flüge von und nach Rhodos, bevor es am Folgetag den Flug von Heraklion nach Stuttgart habe durchführen können. Die Angaben zur Anzahl der Krankmeldungen und dem üblichen Krankenstand erscheinen danach nachvollziehbar, glaubhaft und verlässlich.

c) Der enge zeitliche Abstand zwischen dem Management Letter, dem Brief des Krisenstabes der Arbeitnehmer vom 30.09.2016 und dem dann ansteigenden ungewöhnlich hohen Krankenstand, spricht nach den Grundsätzen des ersten Anscheins für einen „wilden“ Streik. Anhaltspunkte dafür, dass es sich nicht um ein unzulässiges Streikgeschehen in Form einer abgestimmten Arbeitsniederlegung durch gehäufte Krankmeldungen handeln könnte, sondern dass das Personal der Beklagten tatsächlich von einer Krankheitswelle erfasst worden wäre, bestehen nicht. Die Beklagte hat dazu vorgetragen, dass es bei dem Bodenpersonal keine nennenswerten Krankmeldungen gegeben habe. Auch der Umstand, dass die Krankmeldungen ab dem 9. Oktober rapide zurückgingen, nachdem die Betriebsangehörigen von einer Verständigung unterrichtet worden waren, deutet auf eine gezielte Arbeitskampfmaßnahme hin. Unabhängig davon dürfte aber auch ein plötzlich auftretender, außergewöhnlich hoher Krankenstand nicht mehr dem gewöhnlichen Lauf der Dinge entsprechen, sondern liegt außerhalb dessen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenförderung im Luftverkehr verbunden ist. Mit einem derartig hohen Personalausfall musste die Beklagte im Rahmen des üblichen Ablaufs des Flugverkehrs nicht rechnen.

2. Die Kammer geht davon aus, dass sich die Annullierung des hier streitgegenständlichen Fluges aufgrund der hohen Anzahl der Krankmeldungen nicht vermeiden ließ, obwohl alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden sind.

a) Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21.08.2012 (X ZR 138/11, juris Rdnr. 32 f.) können bei Ausfall eines erheblichen Teils der Piloten an die Darlegung der Gründe, warum ein bestimmter Flug annulliert worden ist, keine hohen Anforderungen gestellt werden. In einer solchen Situation stehe das Luftverkehrsunternehmen vor der Aufgabe, den Betriebsablauf möglichst schon im Vorfeld entsprechend zu reorganisieren. Hierbei habe es vor allem darauf hinzuwirken, dass die Beeinträchtigung für die Gesamtheit der Fluggäste möglichst gering ausfällt und dass nach dem Wegfall der Beeinträchtigungen möglichst schnell wieder der Normalbetrieb aufgenommen werden kann. Schöpft das Luftverkehrsunternehmen unter Einhaltung dieser Anforderungen die ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen in dem gebotenen Umfang aus, kann die Nichtdurchführung eines einzelnen Fluges in der Regel nicht allein deshalb als vermeidbar angesehen werden, weil stattdessen ein anderer Flug hätte annulliert werden können. In Anbetracht der komplexen Entscheidungssituation, bei der eine Vielzahl von Flügen sowie deren Verknüpfung untereinander zu berücksichtigen sind, ist dem Luftverkehrsunternehmen vielmehr der erforderliche Spielraum bei der Beurteilung der zweckmäßigen Maßnahmen zuzubilligen.

b) Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hat die Beklagte nachgewiesen, alle ihr zumutbaren Maßnahmen ergriffen zu haben, um die Beeinträchtigungen im Flugverkehr am 6. Oktober möglichst gering zu halten. Die Zeugin W. hat dazu bekundet, dass sie zunächst versucht hätten, aus dem eigenen Personalstand die Lücken aufzufüllen. Es sei regelmäßig ein Standby-Pool geplant, aus dem dann Piloten eingesetzt werden könnten und auch Kabinenpersonal eingesetzt werden könne. Dieser betrage etwa 20 % des für die Flüge eingesetzten Cockpit - Personals und 30 % des Kabinenpersonals. Sie hätten als weiteren Schritt versucht, dem Personal freie Tage abzukaufen. Diejenigen, die die vorgeschriebene Ruhezeit schon hinter sich hatten, seien kontaktiert worden. Dabei hätten sie aber so gut wie gar keinen Erfolg gehabt. Sie hätten ab dem 3. Oktober Appelle an die Bediensteten gerichtet, dass jeder, soweit er kann, sich zur Verfügung stellen solle. Auch diese Appelle seien nicht erfolgreich gewesen. Erst nach Veröffentlichung der Kompromissverständigung am Abend des 7. Oktober hätten sich wieder Personen zur Verfügung gestellt. Ab dem 2. Oktober seien außerdem Anfragen für Subcharter gestellt worden. Es seien am 2. Oktober 59 Fluggesellschaften und ein Broker angeschrieben und ab dem 3. Oktober fünf weitere Broker. Sie hätten für jeden Tag, aber auch für die Folgetage nach Subchartern gefragt, d.h. nach Flugzeugen inklusive Personal. Am 06. Oktober seien 22 Subcharter eingesetzt worden.

Auch diese Bekundungen der Zeugin W. sind glaubhaft und überzeugend. Die Aussage zur Anfrage nach Subchartern entspricht den eingereichten e-mail Schreiben (Anl. B 11, Bl. 70 - 72 d.A.). Die Zeugin W. hat außerdem angegeben, am 06.10.2016 im Dienst gewesen zu sein. Sie habe an der Reorganisation des Flugverkehrs selbst nicht mitgewirkt, habe aber mitbekommen, was am 06.10. passiert sei, zumal sie auch persönlich daran interessiert gewesen sei, weil ihre Schwester eigentlich in Urlaub fliegen wollte. Sie sei teilweise im Raum der Kollegen gewesen, die die Subcharter organisiert hätten. Sie habe auch die Kollegen in der Verkehrszentrale erlebt und habe mitbekommen, wie sie daran gearbeitet haben, den Flugverkehr aufrechtzuerhalten und zunehmend verzweifelter geworden seien. Danach hat die Zeugin aus eigener Anschauung die Reorganisation des Flugverkehrs beobachtet. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hat sich die Beklagte rechtzeitig bemüht, die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen auszuschöpfen und hat schon am 2.10.2016 Anfragen an Subcharter gestellt und diese auch angemietet.

Die Kammer geht auch davon aus, dass die für den streitgegenständlichen Flug eingesetzte Maschine nicht frühzeitiger den Flug von Heraklion nach Stuttgart durchführen konnte, da der Personalausfall unerwartet hoch gewesen ist und für die geplanten Flüge ganz überwiegend Subcharter eingesetzt werden mussten. Die Beklagte war nicht verpflichtet, das verbleibende Personal zu Gunsten des streitgegenständlichen Fluges anders einzusetzen. Die Annullierung oder Verspätung kann nicht als vermeidbar angesehen werden, wenn stattdessen ein anderer Flug verspätet hätte durchgeführt werden müssen.

d) Der Beklagten wäre es in dieser Situation nicht möglich gewesen, Flugausfälle und -verspätungen dadurch zu vermeiden, dass sie ihre Mitarbeiter zur Erfüllung ihrer arbeitsvertraglichen Verpflichtungen anhält (vergl. AG Hannover, Urt. v. 05.07.2017 - 410 C 1393/17 - juris Rdnr. 48). Arbeitsrechtliche Maßnahmen hätten die Flugverspätungen am 6. Oktober bereits deshalb nicht vermieden, weil sie mehrere Tage in Anspruch genommen hätten. Der Ausfall und die Verspätungen im Flugverkehr wären dadurch kurzfristig nicht zu beheben gewesen. Die Androhung von Schadensersatzansprüchen birgt die Gefahr, dass sich ein Arbeitskampf weiter verschärft. Da die Beklagte auf ihr Personal angewiesen war, wären auch Abmahnungen und Kündigungsandrohungen wenig zielführend gewesen.

3. Der Beklagten ist nicht vorzuwerfen, dass sie mit dem Management Letter vom 30.09.2016 die massenhaften Krankmeldungen provoziert habe. Einem Unternehmen muss es möglich sein, ihre Betriebsangehörigen über die gegenwärtige und mögliche zukünftige wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens zu unterrichten. Die Beklagte musste auch nicht mit den unangekündigten, spontanen Arbeitskampfmaßnahmen rechnen, da in dem Management Letter ausdrücklich darauf hingewiesen worden war, dass vor einer Entscheidung intensive Gespräche mit den Arbeitnehmervertretern geführt werden sollten. Die Beklagte hat ohnehin keinen Einfluss darauf, inwieweit aufgrund einer unternehmerischen Ankündigung Kampfmaßnahmen in Form von Krankmeldungen ergriffen werden (vergl. BGH a.a. O. juris Rdnr. 26; LG Stuttgart, Urt. v. 13.07.2017 - 5 S 66/17 -).

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97, 711 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision wird aufgrund der Vielzahl divergierender Entscheidungen zu den Flugverspätungen und - ausfällen in der Zeit vom 3. - 8. Oktober 2016 zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen, § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO.  



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