Europäischer Gerichtshof

Urteil vom - Az: C-318/13

Entschädigung wegen Arbeitsunfall - Unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen nicht zu berücksichtigen

(1.) Die unterschiedliche Lebenserwartung für Männer und Frauen darf nicht als versicherungsmathematisches Kriterium für die Berechnung der infolge eines Arbeitsunfalls zu zahlenden gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen der sozialen Sicherheit herangezogen werden, wenn bei Verwendung dieses Kriteriums die an einen Mann zu zahlende einmalige Entschädigungsleistung niedriger ausfällt als die Entschädigung, die eine gleichaltrige Frau erhalten würde, die sich in einer vergleichbaren Situation befindet.

(2.) Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 verbietet u.a. jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Hinblick auf die Berechnung der dort genannten Leistungen. Anwendbar ist die Richtlinie u.a. auf gesetzliche Systeme, die den Schutz vor Risiken von Arbeitsunfällen bezwecken (Art. 3 Abs. 1 a)).
Ist die Arbeitnehmerunfallversicherung Teil des gesetzlichen Systems, so ist die Richtlinie auch dann andwendbar, wenn die Entschädigung durch eine private Krankenversicherung ausgezahlt wird.
(Redaktionelle Orientierungssätze)

Tenor

1.      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegensteht, aufgrund deren die unterschiedliche Lebenserwartung für Männer und Frauen als versicherungsmathematisches Kriterium für die Berechnung der infolge eines Arbeitsunfalls zu zahlenden gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen der sozialen Sicherheit herangezogen wird, wenn bei Verwendung dieses Kriteriums die an einen Mann zu zahlende einmalige Entschädigungsleistung niedriger ausfällt als die Entschädigung, die eine gleichaltrige Frau erhalten würde, die sich im Übrigen in einer vergleichbaren Situation befindet.

2.      Es obliegt dem vorlegenden Gericht, zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für eine Haftung des Mitgliedstaats erfüllt sind. Im Hinblick auf die Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Bestimmung einen „hinreichend qualifizierten“ Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt, wird dieses Gericht u. a. zu berücksichtigen haben, dass sich der Gerichtshof noch nicht dazu geäußert hat, ob bei der Bemessung einer Leistung, die nach dem gesetzlichen Sozialversicherungssystem gezahlt wird und in den Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 fällt, ein auf die durchschnittliche Lebenserwartung je nach dem Geschlecht gestützter Faktor berücksichtigt werden darf. Das vorlegende Gericht wird ebenso der den Mitgliedstaaten vom Unionsgesetzgeber eingeräumten Möglichkeit, die in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen sowie in Art. 9 Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen Ausdruck gefunden hat, Rechnung zu tragen haben. Im Übrigen wird es zu berücksichtigen haben, dass der Gerichtshof am 1. März 2011 (C-236/09, EU:C:2011:100) entschieden hat, dass die erste dieser Bestimmungen ungültig ist, da sie gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen verstößt.

 

Tatbestand

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24).

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und dem Ministerium für Soziales und Gesundheit (im Folgenden: Ministerium) über die Gewährung einer aufgrund eines Arbeitsunfalls gezahlten Pauschalentschädigung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. a findet die Richtlinie 79/7 Anwendung auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz u. a. gegen die Risiken von Arbeitsunfällen bieten.

Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

 „Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im Besonderen betreffend:

-        den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen,

-        die Beitragspflicht und die Berechnung der Beiträge,

-        die Berechnung der Leistungen, einschließlich der Zuschläge für den Ehegatten und für unterhaltsberechtigte Personen, sowie die Bedingungen betreffend die Geltungsdauer und die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die Leistungen.“

Finnisches Recht

Die Durchführung der Unfallversicherung ist eine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung, deren Ausführung in Finnland privaten Versicherungsgesellschaften anvertraut wurde. Um ihre Verpflichtung zu erfüllen, für die Sicherheit der Arbeitnehmer im Bereich Arbeitsunfälle Sorge zu tragen, müssen die Arbeitgeber eine Versicherung bei einer für die Abdeckung der Risiken gemäß dem Gesetz über die Unfallversicherung für Arbeitnehmer (Tapaturmavakuutuslaki) von 1982 in der 1992 geänderten Fassung (im Folgenden: Unfallversicherungsgesetz) zugelassenen Versicherungsgesellschaft abschließen. Die Kosten der gesetzlich vorgeschriebenen Unfallversicherung werden durch von den Arbeitgebern bezahlte Versicherungsprämien gedeckt.

Bei der Entschädigung für bleibende Schäden (Invalidengeld) handelt es sich um eine der Leistungen der Unfallversicherung. Sie gehört zum gesetzlichen System der sozialen Sicherheit. Ihr Ziel ist es, den Arbeitnehmer für einen Schaden der genannten Art infolge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit, d. h. einer lebenslangen Verringerung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit, zu entschädigen.

Nach § 14 Abs. 1 Nr. 1 des Unfallversicherungsgesetzes wird als Entschädigung für eine durch einen Arbeitsunfall verursachte Verletzung oder Krankheit insbesondere Invalidengeld gewährt.

§ 18b Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor, dass die Entschädigung in Form des Invalidengelds in Abhängigkeit vom Einzelfall als Einmalbetrag oder als Rente gezahlt wird. Gemäß § 18b Abs. 3 wird die als Einmalbetrag gewährte Entschädigung nach vom Ministerium genehmigten Kriterien als Kapitalbetrag, der dem Kapitalwert des Invalidengelds entspricht, unter Berücksichtigung des Alters des Arbeitnehmers berechnet.

Der Erlass Nr. 1662/453/82 des Ministeriums vom 30. Dezember 1982 über die Kriterien für die Kapitalwerte der Unfallrenten der Unfallversicherung und die Kriterien für die Zahlung einer Entschädigung als Einmalbetrag anstelle der Entschädigung in Form einer Rente legte die Kriterien fest, anhand deren diese Entschädigung zu berechnen ist.

In dieser Hinsicht legt der Anhang dieses Erlasses folgende Formeln fest:

 „Die anzuwendende Sterblichkeit ist (TLE-82) mit einer Altersverschiebung von 3 Jahren, also

ux = 0,0000797 e 0,0875 (x+3) (Mann)

ux = 0,0000168 e 0,1000 (y+3) (Frau).“

Die durch Verletzungen oder Krankheiten hervorgerufenen Schäden werden zum Zweck der Quantifizierung des bleibenden allgemeinen Schadens in Abhängigkeit von ihrer medizinischen Natur und ihrem Schweregrad in 20 Klassen eingeteilt. Die Höhe der zuerkannten Entschädigung richtet sich nach der Schadensklasse. Die Entschädigung für weniger schwerwiegende Verletzungen und Krankheiten, die zu den Klassen 1 bis 10 gehören, wird grundsätzlich als Einmalbetrag gezahlt. Für die Schadensklassen 11 bis 20 können die Versicherten zwischen einer einmaligen Zahlung und einer lebenslangen monatlichen Rente wählen.

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

X, der 1953 geboren wurde, wurde am 27. August 1991 bei einem Arbeitsunfall verletzt. Das Vakuutusoikeus (Sozialgericht) stellte mit Entscheidung vom 18. Oktober 2005 fest, dass er Anspruch auf Invalidengeld nach dem Unfallversicherungsgesetz hat.

Infolge dieser Entscheidung setzte der zuständige Versicherungsträger mit Entscheidungen vom 16. Dezember 2005 das an X zu gewährende Invalidengeld auf einen Pauschalbetrag von 4 197,98 Euro inklusive aller Aufschläge fest.

X legte einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung ein und berief sich darauf, dass das als Einmalbetrag gewährte Invalidengeld nach denselben Kriterien berechnet werden müsse, wie wenn es an eine Frau gezahlt würde. Der Rechtsbehelf wurde vom Beschwerdeausschuss für Arbeitsunfälle am 31. August 2006 zurückgewiesen. Diese Entscheidung wurde vom Vakuutusoikeus am 27. Mai 2008 bestätigt.

X trug in einem Schreiben an das Ministerium vom 13. Oktober 2008 vor, dass der ihm als Invalidengeld gezahlte Pauschalbetrag unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts über die Gleichbehandlung von Frauen und Männern festgesetzt worden sei. X forderte daher 278,89 Euro nebst Verzugszinsen. Dieser Betrag entspricht dem Unterschied zwischen der von X erhaltenen Entschädigung und der Entschädigung, die an eine gleichaltrige Frau in einer vergleichbaren Situation zu zahlen gewesen wäre. Das Ministerium lehnte die Zahlung des geforderten Betrags am 27. Mai 2009 ab.

Mit Klage, die am 17. Juni 2009 beim Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki) einging, beantragte X, dem finnischen Staat aufzugeben, ihm den in Rede stehenden Betrag zu zahlen. Das Helsingin hallinto-oikeus wies die Klage mit Entscheidung vom 2. Dezember 2010 mit der Begründung, dass es nicht zuständig sei, als unzulässig ab.

X legte daraufhin gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel beim Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht) ein, das die Entscheidung des Helsingin hallinto-oikeus am 28. November 2012 aufhob.

In der Sache möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Vorschriften des Unionsrechts über die Gleichbehandlung von Frauen und Männern, insbesondere Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7, einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegenstehen, aufgrund deren die infolge eines Arbeitsunfalls zu zahlende gesetzlich vorgeschriebene Leistung der sozialen Sicherheit wegen geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren für Frauen und Männer unterschiedlich hoch ist.

Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass zu entscheiden wäre, ob die Voraussetzungen für die Haftung des betreffenden Mitgliedstaats für einen Verstoß gegen das Unionsrecht erfüllt sind, wenn Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 dahin auszulegen sein sollte, dass er einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift wie der, um die es in dem vor ihm anhängigen Rechtsstreit geht, entgegensteht.

Unter diesen Umständen hat das Korkein hallinto-oikeus beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 dahin auszulegen, dass er einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegensteht, aufgrund deren die unterschiedliche Lebenserwartung für Männer und Frauen als versicherungsmathematisches Kriterium für die Berechnung der infolge eines Arbeitsunfalls zu zahlenden gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen der sozialen Sicherheit herangezogen wird, wenn bei Verwendung dieses Kriteriums die an einen Mann zu zahlende einmalige Entschädigungsleistung niedriger ausfällt als die Entschädigung, die eine gleichaltrige Frau erhalten würde, die sich im Übrigen in einer vergleichbaren Situation befindet?

2.      Wenn dies bejaht wird: Liegt in dieser Rechtssache als Voraussetzung für die Haftung des Mitgliedstaats ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht vor, wenn insbesondere berücksichtigt wird, dass

-        der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung nicht ausdrücklich dazu Stellung genommen hat, ob bei der Bemessung von Leistungen der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 fallen, geschlechtsspezifische versicherungsmathematische Faktoren berücksichtigt werden dürfen,

-        der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache C-236/09, Association belge des Consommateurs Test-Achats u. a. (C-236/09, EU:C:2011:100), Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (ABl. L 373, S. 37), der die Berücksichtigung solcher Faktoren zulässt, für ungültig erklärt hat, aber eine Übergangszeit bis zum Eintritt der Ungültigkeit angeordnet hat, und

-        der Unionsgesetzgeber in den Richtlinien 2004/113 und 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (ABl. L 204, S. 23) die Berücksichtigung solcher Faktoren bei der Berechnung der Leistungen im Sinne dieser Richtlinien unter bestimmten Bedingungen zugelassen und der nationale Gesetzgeber auf dieser Grundlage angenommen hat, dass die fraglichen Faktoren auch im Bereich der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit im Sinne der vorliegenden Rechtssache berücksichtigt werden dürfen?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

Die finnische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass sich die dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Tatsachen, also der Arbeitsunfall von X, im Laufe des Jahres 1991 zugetragen hätten, d. h. vor dem Beitritt der Republik Finnland zur Europäischen Union. Auch wenn die in Rede stehende Pauschalentschädigung zum Ausgleich des durch den Arbeitsunfall hervorgerufenen bleibenden Schadens diene, komme es für die Anwendbarkeit des Unionsrechts allein auf den Zeitpunkt des schadensursächlichen Vorfalls an. Unter diesen Umständen geht die finnische Regierung davon aus, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts nicht zuständig sei.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Rechtsakt, der den Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits bildet, mit der Entscheidung des Vakuutusoikeus im Laufe des Jahres 2008 ergangen ist. Es steht ebenfalls fest, dass das Invalidengeld, um das es sich handelt, die Folgen des Unfalls von X während seines gesamten Lebens ausgleichen soll.

Daraus folgt, dass der Ausgangsrechtsstreit keinen Sachverhalt zum Gegenstand hat, dessen sämtliche Folgen bereits vor dem Beitritt der Republik Finnland zur Europäischen Union eingetreten wären.

Daher ist der Gerichtshof zur Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts zuständig.

 

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

Zur Beantwortung der ersten Frage ist vorab darauf hinzuweisen, dass, auch wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entschädigung von einer privaten Versicherungsgesellschaft ausgezahlt wird, die Arbeitnehmerunfallversicherung in Finnland und die Kriterien für eine Gewährung dieser Entschädigung Teil der „gesetzlichen“ Systeme sind, die Schutz gegen die Risiken von Arbeitsunfällen im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 79/7 bieten. Daher fällt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entschädigung in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie.

Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 verbietet u. a. jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Hinblick auf die Berechnung der dort genannten Leistungen.

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass es im Ausgangsverfahren um die Berechnungsmethode für den Betrag einer Arbeitsunfallentschädigung geht, die als Einmalzahlung in Form einer Pauschalentschädigung gezahlt wird. Diese Berechnung muss nach Maßgabe u. a. des Alters des Arbeitnehmers sowie seiner durchschnittlichen verbleibenden Lebenserwartung vorgenommen werden. Für die Bestimmung des letztgenannten Faktors wird das Geschlecht des Arbeitnehmers berücksichtigt.

Es ist unstreitig, dass eine Frau gleichen Alters wie X, die am gleichen Tag wie X einen identischen Arbeitsunfall gehabt hätte, der die gleichen Schäden hervorgerufen hätte, nach der Berechnungsmethode für die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Pauschalentschädigung einen Anspruch auf eine höhere Pauschalentschädigung gehabt hätte als diejenige, die X zusteht.

Die finnische Regierung macht jedoch geltend, dass sich eine solche Frau und X nicht in einer vergleichbaren Situation befänden. Sie führt dazu aus, dass die Berechnungsmethode für das in der nationalen Regelung vorgesehene, als einmalige Entschädigung gezahlte Invalidengeld eine Festsetzung seines Betrags in einer Höhe erlauben solle, die dem Gesamtbetrag des Invalidengelds im Fall seiner Zahlung in Form einer lebenslangen Rente entspreche. Da Männer und Frauen eine unterschiedliche Lebenserwartung hätten, würde die Anwendung eines einheitlichen Mortalitätskoeffizienten für beide Geschlechter dazu führen, dass die als Einmalbetrag an eine verunfallte Arbeitnehmerin gezahlte Entschädigung nicht mehr der durchschnittlichen verbleibenden Lebenserwartung der damit Begünstigten entspräche.

Die finnische Regierung präzisiert, dass die Differenzierung in Abhängigkeit vom Geschlecht notwendig sei, um eine Benachteiligung der Frauen gegenüber den Männern zu vermeiden. Da Frauen statistisch gesehen eine höhere Lebenserwartung hätten, müsse die Entschädigung, die dem pauschalisierten Ausgleich des erlittenen Schadens für die verbleibende Lebensdauer der geschädigten Person diene, für Frauen höher sein als für Männer. Somit liege keine Diskriminierung zwischen Männern und Frauen vor.

In dieser Hinsicht ist es, wie auch die Generalanwältin in Nr. 29 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich mit diesem Einwand höchstens die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen bei der Gewährung einer Entschädigung wie der im Ausgangsfall in Rede stehenden rechtfertigen ließe, nicht aber, wie die finnische Regierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, in Abrede stellen ließe, dass Männer und Frauen nach den nationalen Rechtsvorschriften ungleich behandelt werden, soweit diese zur Folge haben, dass unter gleichen Bedingungen unterschiedliche Entschädigungen gewährt werden.

Es ist daher festzustellen, dass die Vorschriften des im Ausgangsfall in Rede stehenden Unfallversicherungssystems eine Ungleichbehandlung bewirken, die eine gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 verstoßende Diskriminierung darstellen kann.

Unter diesen Bedingungen ist zu klären, ob diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann.

Zu den in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 genannten möglichen Gründen für eine Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung ist festzustellen, dass die Berücksichtigung eines Faktors auf der Grundlage der verbleibenden Lebenserwartung weder in Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie, der Bestimmungen zum Schutz der Frau wegen Mutterschaft zum Inhalt hat, noch in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehen ist, der es den Mitgliedstaaten ermöglicht, von ihrem Anwendungsbereich eine bestimmte Anzahl von Regelungen, Vergünstigungen und Leistungen im Bereich der sozialen Sicherheit auszuschließen.

Im Übrigen folgt aus dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 nicht, dass die dort genannten Gründe für eine Abweichung nicht abschließend sind und dass die Mitgliedstaaten frei sind, andere Gründe für eine Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung vorzusehen. Die Tatsache, dass die Berücksichtigung eines solchen Faktors in den Bestimmungen dieser Richtlinie nicht ausdrücklich verboten wird, kann nicht dahin ausgelegt werden, dass sie es dem nationalen Gesetzgeber erlauben würde, diesen Faktor als Bestandteil der Berechnung für eine Entschädigung wie die des Ausgangsverfahrens vorzusehen.

Die finnische Regierung macht allerdings geltend, dass der Unterschied der Entschädigungsbeträge je nach dem Geschlecht des betroffenen Arbeitnehmers durch den objektiven Unterschied der durchschnittlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen gerechtfertigt werden könne. Sonst würden Frauen, die gegenüber Männern eine statistisch höhere Lebenserwartung hätten, benachteiligt, da mit der pauschalen Entschädigung die Unfallfolgen für den Rest des Lebens der geschädigten Person abgegolten werden sollten.

Dazu ist festzustellen, dass die Berechnung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Pauschalentschädigung ungeachtet dessen, dass diese in einer Regelung vorgesehen ist, in der auch während des gesamten verbleibenden Lebens der geschädigten Person gezahlte Leistungen für einen Schaden aufgrund eines Arbeitsunfalls festgesetzt werden, nicht auf der Grundlage einer Verallgemeinerung zur durchschnittlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen vorgenommen werden kann.

Eine solche Verallgemeinerung kann nämlich zu einer diskriminierenden Behandlung der Versicherten männlichen Geschlechts gegenüber den Versicherten weiblichen Geschlechts führen. Im Übrigen steht der Berücksichtigung allgemeiner geschlechtsspezifischer statistischer Daten entgegen, dass nicht sicher ist, dass eine Versicherte immer eine höhere Lebenserwartung hat als ein Versicherter gleichen Alters in einer vergleichbaren Situation.

Aus diesen Erwägungen folgt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nicht gerechtfertigt werden kann.

Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegensteht, aufgrund deren die unterschiedliche Lebenserwartung für Männer und Frauen als versicherungsmathematisches Kriterium für die Berechnung der infolge eines Arbeitsunfalls zu zahlenden gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen der sozialen Sicherheit herangezogen wird, wenn bei Verwendung dieses Kriteriums die an einen Mann zu zahlende einmalige Entschädigungsleistung niedriger ausfällt als die Entschädigung, die eine gleichaltrige Frau erhalten würde, die sich im Übrigen in einer vergleichbaren Situation befindet.

Zur zweiten Frage

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob ein Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende als ein „hinreichend qualifizierter“ Verstoß gegen das Unionsrecht einzustufen ist, was eine der Voraussetzungen für die Haftung des betroffenen Mitgliedstaats darstellt.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Rn. 56 seines Urteils Brasserie du pêcheur und Factortame (C-46/93 und C-48/93, EU:C:1996:79) dargelegt hat, dass zu den Gesichtspunkten, die das nationale Gericht gegebenenfalls zu berücksichtigen hat, das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen oder den Unionsbehörden belässt, die Frage, ob der Verstoß vorsätzlich oder nicht vorsätzlich begangen oder der Schaden vorsätzlich oder nicht vorsätzlich zugefügt wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums und der Umstand gehören, dass die Verhaltensweisen eines Unionsorgans möglicherweise dazu beigetragen haben, dass nationale Maßnahmen oder Praktiken in unionsrechtswidriger Weise unterlassen, eingeführt oder aufrechterhalten wurden.

Der Gerichtshof hat auch hervorgehoben, dass die konkrete Anwendung der Voraussetzungen für die Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, entsprechend den vom Gerichtshof hierfür gegebenen Leitlinien grundsätzlich den nationalen Gerichten obliegt (vgl. Urteil Test Claimants in the FII Group Litigation, C-446/04, EU:C:2006:774, Rn. 210 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Daraus folgt, dass der Gerichtshof die Beurteilung durch die nationalen Gerichte nicht durch seine eigene ersetzen kann (vgl. Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame, EU:C:1996:79, Rn. 58). Allerdings kann der Gerichtshof Letzteren Leitlinien und Hinweise zur konkreten Anwendung dieses Grundsatzes an die Hand geben (vgl. Urteil Köbler, C-224/01, EU:C:2003:513, Rn. 100).

In Bezug auf die vorliegende Rechtssache sind drei Gesichtspunkte hervorzuheben, die zur Beantwortung der Frage zu berücksichtigen sind, ob die in Rede stehenden Vorschriften des nationalen Rechts als ein „hinreichend qualifizierter“ Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 angesehen werden müssen.

Erstens waren die Tragweite des in Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Grundsatzes der Gleichbehandlung und seine Auslegung bisher nicht Gegenstand eines Urteils des Gerichtshofs. Im Übrigen hat sich der oben festgestellte Verstoß gegen das Unionsrecht in Bezug auf X erst im Jahr 2008 mit der endgültigen Entscheidung des Vakuutusoikeus konkretisiert.

Zweitens wurde bisher weder gegen das in Rede stehende finnische Gesetz noch gegen irgendein anderes nationales Gesetz eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV wegen eines Verstoßes gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7 erhoben.

Drittens ist hinsichtlich der vom Unionsgesetzgeber erlassenen Rechtsakte zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt hat, vor dem 21. Dezember 2007 proportionale Unterschiede bei den Prämien und Leistungen für Versicherte dann zuzulassen, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist. Im Übrigen hat der Unionsgesetzgeber zwar beschlossen, dass eine bestimmte Anzahl von auf das Geschlecht gestützten Regelungen im Bereich der betrieblichen Systeme der sozialen Sicherheit gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt, in Art. 9 Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie 2006/54 aber nichtsdestoweniger unter den Ausnahmen von diesem Grundsatz in bestimmten Fällen die Verwendung von nach dem Geschlecht unterschiedlichen versicherungsmathematischen Faktoren aufgeführt.

Zur ersten dieser Bestimmungen hat der Gerichtshof am 1. März 2011 in Rn. 32 des Urteils Association belge des Consommateurs Test-Achats u. a. (EU:C:2011:100) entschieden, dass eine Erlaubnis für die Mitgliedstaaten, eine Ausnahme von der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen unbefristet aufrechtzuerhalten, der Verwirklichung des mit der Richtlinie 2004/113 verfolgten Ziels der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwiderläuft, wobei er klargestellt hat, dass diese Bestimmung aufgrund ihres diskriminierenden Charakters als ungültig anzusehen ist.

Nach alledem obliegt es dem nationalen Gericht, zu prüfen, ob im vorliegenden Fall der Verstoß gegen das Unionsrecht als „hinreichend qualifiziert“ anzusehen ist.

Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass es dem vorlegenden Gericht obliegt, zu beurteilen, ob die Voraussetzungen für eine Haftung des Mitgliedstaats erfüllt sind. Im Hinblick auf die Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Bestimmung einen „hinreichend qualifizierten“ Verstoß gegen das Unionsrecht darstellt, wird dieses Gericht u. a. zu berücksichtigen haben, dass sich der Gerichtshof noch nicht dazu geäußert hat, ob bei der Bemessung einer Leistung, die nach dem gesetzlichen Sozialversicherungssystem gezahlt wird und in den Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 fällt, ein auf die durchschnittliche Lebenserwartung je nach dem Geschlecht gestützter Faktor berücksichtigt werden darf. Das vorlegende Gericht wird ebenso der den Mitgliedstaaten vom Unionsgesetzgeber eingeräumten Möglichkeit, die in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 und Art. 9 Abs. 1 Buchst. h der Richtlinie 2006/54 Ausdruck gefunden hat, Rechnung zu tragen haben. Im Übrigen wird es zu berücksichtigen haben, dass der Gerichtshof am 1. März 2011 (C-236/09, EU:C:2011:100) entschieden hat, dass die erste dieser Bestimmungen ungültig ist, da sie gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen verstößt.

 

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.



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