Europäischer Gerichtshof

Urteil vom - Az: C-507/12

Europaweite Arbeitnehmerfreizügigkeit auch während Schwangerschaft

(1.) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist (Art. 7 der Freizügigkeits-Richtlinie).
Die Richtlinie konkretisiert die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV).

(2.) Als "Arbeitnehmerin" (i.S.v. Art. 45 AEUV) gilt auch eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oder Arbeitsuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Stelle findet.

(3.) Bei der Feststellung, ob der zwischen der Geburt des Kindes und der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit liegende Zeitraum als angemessen angesehen werden kann, hat das betreffende nationale Gericht alle konkreten Umstände des Ausgangsverfahrens und die für die Dauer des Mutterschaftsurlaubs geltenden nationalen Vorschriften im Einklang mit Art. 8 der Mutterschutz-RL zu berücksichtigen.
(Redaktionelle Orientierungssätze)

Tenor

Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oder Arbeitsuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, die „Arbeitnehmereigenschaft“ im Sinne dieser Vorschrift behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Stelle findet.

 

Tatbestand

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Begriffs „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 45 AEUV und Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, Berichtigung im ABl. 2004, L 229, S. 35).

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Saint Prix und dem Secretary of State for Work and Pensions (Minister für Arbeit und Renten) (im Folgenden: Secretary of State) wegen dessen Weigerung, ihr eine Einkommensbeihilfe zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Die Erwägungsgründe 2 bis 4 und 31 der Richtlinie 2004/38 lauten:

 „(2)      Die Freizügigkeit von Personen stellt eine der Grundfreiheiten des Binnenmarkts dar, der einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem diese Freiheit gemäß den Bestimmungen des [EG-]Vertrags gewährleistet ist.

 (3)      Die Unionsbürgerschaft sollte der grundsätzliche Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sein, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt wahrnehmen. Daher müssen die bestehenden Gemeinschaftsinstrumente, die Arbeitnehmer und Selbstständige sowie Studierende und andere beschäftigungslose Personen getrennt behandeln, kodifiziert und überarbeitet werden, um das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.

 (4)      Um diese bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts zu überwinden und die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, ist ein einziger Rechtsakt erforderlich, in dem die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft [(ABl. L 257, S. 2), in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27. Juli 1992 (ABl. L 245, S. 1) geänderten Fassung] geändert und die folgenden Rechtsakte aufgehoben werden: die Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft [(ABl. L 257, S. 13)], die Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs [(ABl. L 172, S. 14)], die Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht [(ABl. L 180, S. 26)], die Richtlinie 90/365/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätigen [(ABl. L 180, S. 28)] und die Richtlinie 93/96/EWG des Rates vom 29. Oktober 1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten [(ABl. L 317, S. 59)].

...

 (31)      Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und -freiheiten und den Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Dem in der Charta enthaltenen Diskriminierungsverbot zufolge sollten die Mitgliedstaaten diese Richtlinie ohne Diskriminierung zwischen den Begünstigten dieser Richtlinie etwa aufgrund des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung umsetzen“.

Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 lautet:

 „Diese Richtlinie regelt

a)      die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen“.

Art. 7 dieser Richtlinie („Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate“) sieht in seinen Abs. 1 und 3 vor:

 „(1)      Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a)      Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist ...

...

 (3)      Für die Zwecke des Absatzes 1 Buchstabe a) bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger nicht mehr ausübt, in folgenden Fällen erhalten:

a)      Er ist wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig;

b)      er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung;

c)       er stellt sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung; in diesem Fall bleibt die Erwerbstätigeneigenschaft während mindestens sechs Monaten aufrechterhalten;

d)      er beginnt eine Berufsausbildung; die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft setzt voraus, dass zwischen dieser Ausbildung und der früheren beruflichen Tätigkeit ein Zusammenhang besteht, es sei denn, der Betroffene hat zuvor seinen Arbeitsplatz unfreiwillig verloren.“

Art. 16 Abs. 1 und 3 der Richtlinie bestimmt:

 „(1)      Jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, hat das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. ...

...

 (3)       Die Kontinuität des Aufenthalts wird weder durch vorübergehende Abwesenheiten von bis zu insgesamt sechs Monaten im Jahr, noch durch längere Abwesenheiten wegen der Erfüllung militärischer Pflichten, noch durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft, schwere Krankheit, Studium oder Berufsausbildung oder berufliche Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat oder einen Drittstaat berührt.“

Recht des Vereinigten Königreichs

Die Einkommensbeihilfe wird durch den Social Security Contributions and Benefits Act 1992 (Gesetz von 1992 über Sozialversicherungsbeiträge und -leistungen) und die Income Support (General) Regulations 1987 ([Allgemeine] Verordnung von 1987 über Einkommensbeihilfe) geregelt.

Die Einkommensbeihilfe ist eine Leistung, die bei Bedürftigkeit verschiedenen Personengruppen gewährt wird, zu denen gemäß Regulation 4ZA in Verbindung mit Anhang 1B Nr. 14 Buchst. b der Income Support (General) Regulations 1987 eine Frau zählt, die „schwanger ... ist oder gewesen ... ist, aber nur im Zeitraum von elf Wochen vor der Woche, in der ihr errechneter Entbindungstermin liegt, und fünfzehn Wochen nach dem Ende ihrer Schwangerschaft“.

Die Gewährung dieser Leistung setzt gemäß Section 124(1)(b) des Social Security Contributions and Benefits Act 1992 u. a. voraus, dass das Einkommen des Empfängers der Beihilfe den festgesetzten „maßgeblichen Betrag“ nicht überschreitet. Beträgt dieser Betrag null, wird keine Leistung gewährt.

Gemäß Anhang 7 Nr. 17 der Income Support (General) Regulations 1987 beträgt der für einen „Gebietsfremden“ festgesetzte maßgebliche Betrag null.

Regulation 21AA(1) dieser Regulations definiert den „Gebietsfremden“ als „Antragsteller, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht ... im Vereinigten Königreich ... hat“.

Gemäß Regulation 21AA(2) dieser Regulations kann von einem gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers auf Einkommensbeihilfe im Vereinigten Königreich dann ausgegangen werden, wenn er ein „Aufenthaltsrecht“ im Vereinigten Königreich hat.

In Regulation 21AA(4) dieser Regulations heißt es:

 „Ein Antragsteller ist kein Gebietsfremder, wenn er

a)      Arbeitnehmer im Sinne der Richtlinie [2004/38] ist;

b)      Selbständiger im Sinne dieser Richtlinie ist;

c)      eine Person ist, der die in Buchst. a oder b genannte Eigenschaft gemäß Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie erhalten bleibt;

d)      eine Person ist, die Familienangehöriger einer in Buchst. a, b oder c genannten Person im Sinne von Art. 2 dieser Richtlinie ist;

e)      eine Person ist, die nach Art. 17 dieser Richtlinie ein Recht auf Daueraufenthalt im Vereinigten Königreich hat.“

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

Frau Saint Prix besitzt die französische Staatsangehörigkeit und reiste am 10. Juli 2006 in das Vereinigte Königreich ein, wo sie vom 1. September 2006 bis zum 1. August 2007 hauptsächlich als Hilfslehrerin arbeitete. Dann schrieb sie sich an der University of London für einen Kurs zur Erlangung eines Certificate of Education ein; als Kursdauer war der Zeitraum vom 17. September 2007 bis 27. Juni 2008 vorgesehen.

Während dieser Zeit wurde sie schwanger. Errechneter Entbindungstermin war der 2. Juni 2008.

Am 22. Januar 2008 schrieb sich Frau Saint Prix in der Hoffnung, eine Beschäftigung in einer Sekundarschule zu finden, bei einer Leiharbeitsagentur ein. Am 1. Februar 2008 gab sie den von ihr besuchten Kurs an der University of London auf. Da keine Beschäftigung an einer Sekundarschule zur Verfügung stand, arbeitete sie als Leiharbeitnehmerin in Kindergärten. Am 12. März 2008, als sie fast im sechsten Monat schwanger war, gab Frau Saint Prix diese Beschäftigung jedoch mit der Begründung auf, dass die Arbeit mit Kindergartenkindern zu anstrengend für sie geworden sei. Einige Tage lang suchte sie ohne Erfolg eine ihrer Schwangerschaft eher angepasste Beschäftigung.

Am 18. März 2008, also elf Wochen vor dem errechneten Entbindungstermin, beantragte Frau Saint Prix Einkommensbeihilfe. Nachdem dieser Antrag vom Secretary of State mit Entscheidung vom 4. Mai 2008 abgelehnt worden war, erhob sie Klage beim First Tier Tribunal.

Am 21. August 2008, also drei Monate nach der vorzeitigen Geburt ihres Kindes, nahm Frau Saint Prix wieder eine Erwerbstätigkeit auf.

Mit Urteil vom 4. September 2008 gab das First Tier Tribunal ihrer Klage statt. Am 7. Mai 2010 gab das Upper Tribunal dem vom Secretary of State gegen dieses Urteil eingelegten Rechtsmittel statt. Der Court of Appeal bestätigte das Urteil des Upper Tribunal, woraufhin Frau Saint Prix ein Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht einlegte.

Das vorlegende Gericht wirft die Frage auf, ob eine schwangere Frau, die wegen ihrer Schwangerschaft vorübergehend ihre Erwerbstätigkeit aufgibt, als „Arbeitnehmerin“ im Sinne der in Art. 45 AEUV verankerten Arbeitnehmerfreizügigkeit und des durch Art. 7 der Richtlinie 2004/38 verliehenen Aufenthaltsrechts anzusehen ist.

Es stellt insoweit fest, dass weder Art. 45 AEUV noch Art. 7 dieser Richtlinie den Begriff des Arbeitnehmers definierten.

Zwar habe der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Richtlinie 2004/38 beabsichtigt, die bestehenden Rechtsvorschriften und die vorliegende Rechtsprechung zu kodifizieren, doch habe er eine Weiterentwicklung des Arbeitnehmerbegriffs unter Berücksichtigung von Sachverhalten, die bei diesem Erlass nicht ausdrücklich geregelt worden seien, nicht ausschließen wollen. Daher könnte der Gerichtshof unter Berücksichtigung besonderer Umstände wie denen, die für die Schwangerschaft und die Zeit unmittelbar nach der Geburt eines Kindes kennzeichnend seien, entscheiden, diesen Begriff auf schwangere Frauen auszudehnen, die ihre Erwerbstätigkeit für eine angemessene Zeitdauer aufgeben.

Unter diesen Umständen hat der Supreme Court of the United Kingdom beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist das Aufenthaltsrecht, das einem „Arbeitnehmer“ durch Art. 7 der Richtlinie 2004/38 gewährt wird, dahin auszulegen, dass es sich nur auf jene bezieht, die i) sich in einem bestehenden Arbeitsverhältnis befinden, ii) (zumindest unter bestimmten Umständen) Arbeit suchen oder iii) unter die Erweiterungstatbestände des Art. 7 Abs. 3 dieser Richtlinie fallen, oder ist Art. 7 dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass er der Anerkennung weiterer Personen, die für diesen Zweck Arbeitnehmer bleiben, nicht entgegensteht?

2.      a)     Erfasst er, falls Letzteres zutrifft, auch eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oder Arbeitsuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes vernünftigerweise aufgibt?

b)      Falls ja, kann sie sich dann auf die im nationalen Recht vorgesehene Regelung berufen, die bestimmt, wann sie dies vernünftigerweise tun kann?

 

Zu den Vorlagefragen

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, und insbesondere Art. 45 AEUV und Art. 7 der Richtlinie 2004/38, dahin auszulegen sind, dass eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oder Arbeitsuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, die Eigenschaft als „Arbeitnehmer“ im Sinne dieser Rechtsvorschriften behält.

Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass den Erwägungsgründen 3 und 4 der Richtlinie 2004/38 zufolge mit ihr die bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des elementaren und persönlichen Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, überwunden werden sollen, um die Ausübung dieses Rechts zu erleichtern, indem ein einziger Rechtsakt ausgearbeitet wird, in dem die vor dem Erlass dieser Richtlinie bestehenden Instrumente des Unionsrechts kodifiziert und überarbeitet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Ziolkowski und Szeja, C-424/10 und C-425/10, EU:C:2011:866, Rn. 37).

Insoweit ergibt sich aus Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38, dass sie die Bedingungen näher regeln soll, unter denen dieses Recht ausgeübt werden kann, zu denen im Falle eines Aufenthalts von über drei Monaten insbesondere die Bedingung gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie gehört, wonach Unionsbürger die Eigenschaft eines Arbeitnehmers oder eines Selbständigen im Aufnahmemitgliedstaat aufweisen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil Brey, C-140/12, EU:C:2013:565, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 sieht vor, dass für die Zwecke des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie die Erwerbstätigeneigenschaft dem Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausübt, in bestimmten Fällen dennoch erhalten bleibt, nämlich wenn er wegen einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig ist, wenn er sich, in bestimmten Fällen, in unfreiwilliger Arbeitslosigkeit befindet oder aber, wenn er unter bestimmten Voraussetzungen eine Berufsausbildung beginnt.

Es ist jedoch festzustellen, dass Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 nicht ausdrücklich die Situation einer Frau erfasst, die sich wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt ihres Kindes in einer besonderen Lage befindet.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Schwangerschaft eindeutig von einer Krankheit zu unterscheiden ist, da der Zustand der Schwangerschaft nicht mit einem krankhaften Zustand vergleichbar ist (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Webb, C-32/93, EU:C:1994:300, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Folglich kann eine Frau, die sich in der Situation von Frau Saint Prix befindet und die ihre Erwerbstätigkeit wegen des Spätstadiums ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt ihres Kindes vorübergehend aufgibt, nicht als wegen einer Krankheit vorübergehend arbeitsunfähig gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38 angesehen werden.

Allerdings ergibt sich weder aus Art. 7 der Richtlinie 2004/38 als Ganzes noch aus weiteren ihrer Bestimmungen, dass unter solchen Umständen einem Unionsbürger, der die Voraussetzungen dieses Artikels nicht erfüllt, deswegen kategorisch die „Arbeitnehmereigenschaft“ im Sinne des Art. 45 AEUV abgesprochen wird.

Die durch die Richtlinie 2004/38 beabsichtigte Kodifizierung der vor ihrem Erlass bestehenden Instrumente des Unionsrechts, die ausdrücklich die Ausübung des Rechts der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern soll, kann nämlich für sich genommen die Tragweite des Arbeitnehmerbegriffs im Sinne des AEU-Vertrags nicht einschränken.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Begriff „Arbeitnehmer“ im Sinne des Art. 45 AEUV, da er den Anwendungsbereich einer vom AEU-Vertrag vorgesehenen Grundfreiheit festlegt, weit auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil N., C-46/12, EU:C:2013:97, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof festgestellt, dass jeder Angehörige eines Mitgliedstaats, der von dem Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit in den Anwendungsbereich von Art. 45 AEUV fällt (vgl. u. a. Urteile Ritter-Coulais, C-152/03, EU:C:2006:123, Rn. 31, und Hartmann, C-212/05, EU:C:2007:437, Rn. 17).

Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass im Rahmen von Art. 45 AEUV als Arbeitnehmer anzusehen ist, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses verliert der Betroffene grundsätzlich die Arbeitnehmereigenschaft, wobei jedoch zum einen diese Eigenschaft nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestimmte Folgewirkungen haben kann und zum anderen derjenige, der tatsächlich eine Arbeit sucht, ebenfalls als Arbeitnehmer zu qualifizieren ist (Urteil Caves Krier Frères, C-379/11, EU:C:2012:798, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Hierbei ist für die vorliegende Rechtssache hervorzuheben, dass zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer auch das Recht der Angehörigen der Mitgliedstaaten gehört, sich in den anderen Mitgliedstaaten frei zu bewegen und sich dort aufzuhalten, um eine Stelle zu suchen (vgl. u. a. Urteil Antonissen, C-292/89, EU:C:1991:80, Rn. 13).

Somit hängen die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne von Art. 45 AEUV und die sich aus ihr ergebenden Rechte nicht unbedingt vom tatsächlichen Bestehen oder Fortbestehen eines Arbeitsverhältnisses ab (vgl. in diesem Sinne Urteil Lair, 39/86, EU:C:1988:322, Rn. 31 und 36).

Unter diesen Umständen kann entgegen dem Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs nicht davon ausgegangen werden, dass Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 eine abschließende Aufzählung der Umstände enthält, unter denen einem Wanderarbeitnehmer, der sich nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis befindet, dennoch weiterhin die Arbeitnehmereigenschaft zuerkannt werden kann.

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung und wird von den Parteien des Ausgangsverfahrens auch nicht bestritten, dass Frau Saint Prix im Hoheitsgebiet des Vereinigten Königreichs Arbeitnehmertätigkeiten ausgeübt hat, bevor sie weniger als drei Monate vor der Geburt ihres Kindes ihre Erwerbstätigkeit wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und unmittelbar nach der Geburt des Kindes aufgab. Ohne während der Unterbrechung ihrer Berufstätigkeit das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verlassen zu haben, nahm sie drei Monate nach der Geburt ihres Kindes wieder eine Erwerbstätigkeit auf.

Die Tatsache, dass diese Belastungen eine Frau zwingen, die Ausübung einer Arbeitnehmertätigkeit während des für ihre Erholung erforderlichen Zeitraums aufzugeben, ist aber grundsätzlich nicht geeignet, ihr die „Arbeitnehmereigenschaft“ im Sinne von Art. 45 AEUV abzusprechen.

Der Umstand, dass eine solche Person dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats während einiger Monate tatsächlich nicht zur Verfügung gestanden hat, bedeutet nämlich nicht, dass sie während dieser Zeit nicht weiterhin in den betreffenden Arbeitsmarkt eingegliedert ist, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt des Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Beschäftigung findet (vgl. entsprechend Urteil Orfanopoulos und Oliveri, C-482/01 und C-493/01, EU:C:2004:262, Rn. 50).

Bei der Feststellung, ob der zwischen der Geburt des Kindes und der Wiederaufnahme der Erwerbstätigkeit liegende Zeitraum als angemessen angesehen werden kann, hat das betreffende nationale Gericht alle konkreten Umstände des Ausgangsverfahrens und die für die Dauer des Mutterschaftsurlaubs geltenden nationalen Vorschriften im Einklang mit Art. 8 der Richtlinie 92/85/EWG des Rates vom 19. Oktober 1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (ABl. L 348, S. 1) zu berücksichtigen.

Das in Rn. 41 des vorliegenden Urteils gefundene Ergebnis steht mit dem Ziel des Art. 45 AEUV im Einklang, es einem Arbeitnehmer zu ermöglichen, frei in das Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort aufzuhalten, um dort eine Tätigkeit auszuüben (vgl. Urteil Uecker und Jacquet, C-64/96 und C-65/96, EU:C:1997:285, Rn. 21).

Eine Unionsbürgerin würde nämlich, wie die Europäische Kommission geltend macht, von der Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit abgehalten, wenn sie für den Fall ihrer Schwangerschaft im Aufnahmemitgliedstaat und der dadurch bedingten, sei es auch noch so kurzzeitigen, Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit Gefahr liefe, die Arbeitnehmereigenschaft in diesem Staat zu verlieren.

Ferner ist daran zu erinnern, dass das Unionsrecht Frauen im Zusammenhang mit der Mutterschaft einen besonderen Schutz gewährt. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38 im Hinblick auf die Berechnung des ununterbrochenen fünfjährigen Aufenthalts im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats, der es Unionsbürgern erlaubt, das Recht zu erwerben, sich dort auf Dauer aufzuhalten, die Kontinuität des Aufenthalts u. a. durch eine einzige Abwesenheit von höchstens zwölf aufeinanderfolgenden Monaten aus wichtigen Gründen wie Schwangerschaft und Niederkunft nicht berührt wird.

Wenn jedoch vor dem Hintergrund dieses Schutzes eine Abwesenheit aufgrund eines wichtigen Ereignisses wie einer Schwangerschaft oder Niederkunft die Kontinuität des fünfjährigen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat, die für die Gewährung des Rechts auf Daueraufenthalt erforderlich ist, unberührt lässt, können körperliche Belastungen im Spätstadium einer Schwangerschaft und unmittelbar nach der Geburt des Kindes, die eine Frau zur vorübergehenden Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit zwingen, für die Betroffene erst recht nicht zum Verlust der Arbeitnehmereigenschaft führen.

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass eine Frau, die ihre Erwerbstätigkeit oder Arbeitsuche wegen der körperlichen Belastungen im Spätstadium ihrer Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes aufgibt, die „Arbeitnehmereigenschaft“ im Sinne dieser Vorschrift behält, sofern sie innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach der Geburt ihres Kindes ihre Beschäftigung wieder aufnimmt oder eine andere Stelle findet.

 

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstrtreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.



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