Europäischer Gerichtshof

- Az: C-134/22

Fehler im Massenentlassungsverfahren: Kein Individualschutz für Arbeitnehmer

(1.) Die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift des Konsultationsschreibens zu übermitteln, verfolgt nicht den Zweck, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewährleisten.

(2.) Die vorgesehene Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde dient ausschließlich zur Informations- und Vorbereitungszwecken. Dadurch soll es der zuständigen Behörde ermöglicht werden, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen so weit wie möglich abzuschätzen, damit sie, wenn ihr diese Entlassungen angezeigt werden, ihre Befugnisse effizient einsetzen kann, um nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme zu ermitteln.

(3.) Ein etwaiger Verstoß gegen die Übermittlungspflicht nach § 17 Abs.3 S. 1 KSchG an die zuständige Behörde führt somit nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.
(Redaktionelle Orientierungssätze)

In dem Vorlageverfahren ging es darum, dass der beklagte Arbeitgeber insolvent geworden war und daher die vollständige Einstellung des Geschäftsbetriebs beschloss. In diesem Rahmen war die Entlassung aller zuletzt noch beschäftigten Arbeitnehmer beabsichtigt. Aufgrund des Stilllegungsbeschlusses vereinbarte die Beklagte mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich und außerdem einen Sozialplan. In Verbindung mit dem Interessenausgleichsverfahren wurde auch das im Falle einer Massenentlassung erforderliche Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt. Die Beklagte übermittelte der zuständigen Agentur für Arbeit jedoch keine Abschrift der das Konsultationsverfahren einleitenden und an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung gemäß § 17 Abs. 2 KSchG. Hiergegen erhob der Kläger, der zu den zu beabsichtigten kündigenden Arbeitnehmern zählte, Kündigungsschutzklage mit der Begründung, dass die Kündigung wegen der Nichtweiterleitung der Betriebsratskonsultation an die zuständige Agentur für Arbeit unwirksam sei – ohne Erfolg.
Die vorgesehene Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde diene ausschließlich zur Informations- und Vorbereitungszwecken. Dadurch soll es der zuständigen Behörde ermöglicht werden, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen so weit wie möglich abzuschätzen, damit sie, wenn ihr diese Entlassungen angezeigt werden, ihre Befugnisse effizient einsetzen kann, um nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme zu ermitteln. Ein etwaiger Verstoß gegen die Übermittlungspflicht nach § 17 Abs.3 S. 1 KSchG an die zuständige Behörde führe somit nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. 1998, L 225, S. 16).

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen MO und SM als Insolvenzverwalter über das Vermögen der G GmbH wegen der Wirksamkeit der Entlassung von MO im Rahmen einer Massenentlassung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Art. 2 der Richtlinie 98/59, der zu deren Teil II („Information und Konsultation“) gehört, bestimmt in den Abs. 1 bis 3:

„(1)      Beabsichtigt ein Arbeitgeber, Massenentlassungen vorzunehmen, so hat er die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu konsultieren, um zu einer Einigung zu gelangen.

(2)      Diese Konsultationen erstrecken sich zumindest auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben, zu mildern.

(3)      Damit die Arbeitnehmervertreter konstruktive Vorschläge unterbreiten können, hat der Arbeitgeber ihnen rechtzeitig im Verlauf der Konsultationen

a)      die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und

b)      in jedem Fall schriftlich Folgendes mitzuteilen:

i)      die Gründe der geplanten Entlassung;

ii)      die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer;

iii)      die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer;

iv)      den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen;

v)      die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, soweit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken dem Arbeitgeber die Zuständigkeit dafür zuerkennen;

vi)      die vorgesehene Methode für die Berechnung etwaiger Abfindungen, soweit sie sich nicht aus den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken ergeben.

Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Unterabsatz 1 Buchstabe b) Ziffern i) bis v) genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln.“

Art. 3 der Richtlinie, der zu deren Teil III („Massenentlassungsverfahren“) gehört, sieht in Abs. 1 vor:

„Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen.

Die Anzeige muss alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter gemäß Artikel 2 enthalten, insbesondere die Gründe der Entlassung, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen.“

Art. 4 der Richtlinie, der ebenfalls zu deren Teil III gehört, bestimmt in den Abs. 1 bis 3:

„(1)      Die der zuständigen Behörde angezeigten beabsichtigten Massenentlassungen werden frühestens 30 Tage nach Eingang der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Anzeige wirksam; die im Fall der Einzelkündigung für die Kündigungsfrist geltenden Bestimmungen bleiben unberührt.

Die Mitgliedstaaten können der zuständigen Behörde jedoch die Möglichkeit einräumen, die Frist des Unterabsatzes 1 zu verkürzen.

(2)      Die Frist des Absatzes 1 muss von der zuständigen Behörde dazu benutzt werden, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen.

(3)      Soweit die ursprüngliche Frist des Absatzes 1 weniger als 60 Tage beträgt, können die Mitgliedstaaten der zuständigen Behörde die Möglichkeit einräumen, die ursprüngliche Frist auf 60 Tage, vom Zugang der Anzeige an gerechnet, zu verlängern, wenn die Gefahr besteht, dass die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme innerhalb der ursprünglichen Frist nicht gelöst werden können.

Die Mitgliedstaaten können der zuständigen Behörde weitergehende Verlängerungsmöglichkeiten einräumen.

Die Verlängerung ist dem Arbeitgeber vor Ablauf der ursprünglichen Frist des Absatzes 1 mitzuteilen und zu begründen.“

Deutsches Recht

§ 134 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (im Folgenden: BGB) sieht vor:

„Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.“

§ 17 des Kündigungsschutzgesetzes bestimmt in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: KSchG) in den Abs. 1 bis 3:

„(1)      Der Arbeitgeber ist verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er

2.      in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer,

innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Den Entlassungen stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses gleich, die vom Arbeitgeber veranlasst werden.

(2)      Beabsichtigt der Arbeitgeber, nach Absatz 1 anzeigepflichtige Entlassungen vorzunehmen, hat er dem Betriebsrat rechtzeitig die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und ihn schriftlich insbesondere zu unterrichten über

1.      die Gründe für die geplanten Entlassungen,

2.      die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer,

3.      die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,

4.      den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen,

5.      die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer,

6.      die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien.

(3)      Der Arbeitgeber hat gleichzeitig der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Mitteilung an den Betriebsrat zuzuleiten; sie muss zumindest die in Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 bis 5 vorgeschriebenen Angaben enthalten. Die Anzeige nach Absatz 1 ist schriftlich unter Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrates zu den Entlassungen zu erstatten. Liegt eine Stellungnahme des Betriebsrates nicht vor, so ist die Anzeige wirksam, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach Absatz 2 Satz 1 unterrichtet hat, und er den Stand der Beratungen darlegt. Die Anzeige muss Angaben über den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes enthalten, ferner die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. In der Anzeige sollen ferner im Einvernehmen mit dem Betriebsrat für die Arbeitsvermittlung Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer gemacht werden. Der Arbeitgeber hat dem Betriebsrat eine Abschrift der Anzeige zuzuleiten. Der Betriebsrat kann gegenüber der Agentur für Arbeit weitere Stellungnahmen abgeben. Er hat dem Arbeitgeber eine Abschrift der Stellungnahme zuzuleiten.“

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

Der Kläger des Ausgangsverfahrens war seit 1981 bei der G GmbH beschäftigt.

Am 1. Oktober 2019 eröffnete das Insolvenzgericht auf Antrag der G GmbH das Insolvenzverfahren über ihr Vermögen und bestellte den Beklagten des Ausgangsverfahrens für die Zwecke dieses Verfahrens zum Insolvenzverwalter. Für die Dauer des Verfahrens übte er nach den nationalen Rechtsvorschriften gegenüber den Arbeitnehmern der G GmbH die Funktion des Arbeitgebers aus.

Am 17. Januar 2020 wurde beschlossen, die Geschäftstätigkeit der G GmbH bis spätestens 30. April 2020 vollständig einzustellen und in der Zeit vom 28. bis zum 31. Januar 2020 mehr als 10 % der 195 bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer zu entlassen.

Ebenfalls am 17. Januar 2020 wurde das Verfahren zur Konsultation des Betriebsrats in seiner Funktion als Arbeitnehmervertreter eingeleitet. Im Rahmen dieser Konsultation wurden dem Betriebsrat schriftlich die in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b der Richtlinie 98/59 genannten Informationen mitgeteilt. Der zuständigen Behörde – der Agentur für Arbeit Osnabrück (Deutschland) – wurde jedoch keine Abschrift dieser schriftlichen Mitteilung zugeleitet.

Am 22. Januar 2020 erklärte der Betriebsrat in seiner abschließenden Stellungnahme, dass er keine Möglichkeit sehe, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden.

Am 23. Januar 2020 wurde die beabsichtigte Massenentlassung im Einklang mit dem Kündigungsschutzgesetz und Art. 3 der Richtlinie 98/59 der Agentur für Arbeit Osnabrück angezeigt; diese bestätigte den Eingang der Anzeige am 27. Januar 2020. Anschließend beraumte sie für den 28. und 29. Januar 2020 Beratungstermine für die 153 Arbeitnehmer an, die von den beabsichtigten Entlassungen betroffen waren.

Dem Kläger des Ausgangsverfahrens wurde mit Schreiben, das ihm am 28. Januar 2020 zuging, die Kündigung seines Arbeitsvertrags mit der G GmbH zum 30. April 2020 mitgeteilt.

Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob beim zuständigen Arbeitsgericht Klage auf Feststellung, dass sein Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst worden sei. Er stützte seine Klage darauf, dass die Übermittlung einer Abschrift der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung vom 17. Januar 2020 an die zuständige Agentur für Arbeit, die sowohl nach Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 als auch nach § 17 Abs. 3 KSchG vorgeschrieben sei und eine Voraussetzung für die Wirksamkeit der Entlassung darstelle, unterblieben sei.

Der Beklagte des Ausgangsverfahrens machte geltend, die fragliche Entlassung sei wirksam, da § 17 Abs. 3 KSchG, anders als andere Bestimmungen von § 17, nicht den Schutz der von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmer oder die Vermeidung von Entlassungen bezwecke. Die darin vorgesehene Übermittlung einer Abschrift der an den Betriebsrat gerichteten Mitteilung an die zuständige Agentur für Arbeit habe nur den Zweck, Letztere über die geplanten Entlassungen zu informieren. Ihre Übermittlung könne die betreffenden Arbeitnehmer nicht vor einer Massenentlassung schützen, da die Agentur für Arbeit ihr nicht entnehmen könne, welche Möglichkeiten zur Vermeidung der geplanten Kündigungen der Betriebsrat sehe, und habe keinen Einfluss auf die Konsultationen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat.

Die Klage des Klägers des Ausgangsverfahrens blieb sowohl im ersten als auch im zweiten Rechtszug erfolglos. Daraufhin legte er beim Bundesarbeitsgericht (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, Revision ein.

Das vorlegende Gericht sieht darin, dass die Agentur für Arbeit keine Abschrift der an den Betriebsrat im Rahmen des Verfahrens zu dessen Konsultation gerichteten Mitteilung erhalten habe, einen Verstoß gegen § 17 Abs. 3 KSchG, mit dem Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 in nationales Recht umgesetzt worden sei. Weder die Richtlinie noch das nationale Recht sehe jedoch eine ausdrückliche Sanktion für einen solchen Verstoß vor. In solchen Fällen habe das vorlegende Gericht unter Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität darauf zu achten, dass Verstöße gegen das Unionsrecht nach sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet würden, die den Regeln für nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht entsprächen, und dass die Sanktion wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sei. In Anwendung dieser Grundsätze habe es bereits wiederholt entschieden, dass Verstöße gegen die den Arbeitgeber im Zusammenhang mit Massenentlassungen treffenden Pflichten, mit Ausnahme der Pflichten aus § 17 Abs. 3 KSchG, wegen des mit ihnen bezweckten Arbeitnehmerschutzes zur Nichtigkeit der Kündigung gemäß § 134 BGB führten.

Fraglich sei jedoch, ob ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 KSchG ebenfalls zur Nichtigkeit der Kündigung führen könne. Um diese Bestimmung als Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB ansehen zu können, müsse nämlich geklärt werden, ob mit ihr der Zweck verfolgt werde, den von einem Massenentlassungsverfahren betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren; dazu bedürfe es einer Auslegung von Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59.

Der Zweck der letztgenannten Bestimmung könnte angesichts des Ziels der Richtlinie 98/59, Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu schützen, darin bestehen, das gemeinsame Handeln des Arbeitgebers, der für die Massenentlassungsanzeige zuständigen Behörde und der Arbeitnehmervertretung zu fördern. Dieser Zweck mache es jedoch erforderlich, dass die zuständige Behörde so frühzeitig wie möglich Kenntnis von der beabsichtigten Entlassung einer größeren Zahl von Arbeitnehmern erlange. Vor diesem Hintergrund könnte Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 dahin auszulegen sein, dass er den betreffenden Arbeitnehmern Individualschutz gewähre.

Es gebe allerdings auch Argumente für die gegenteilige Auffassung. Das Konsultationsverfahren werde vor der Massenentlassungsanzeige durchgeführt, so dass die Zuleitung der Mitteilung an den Betriebsrat, die zu Beginn des Konsultationsverfahrens erfolge, auf die Vermittlungstätigkeit der Arbeitsverwaltung noch keinen wirklichen Einfluss haben könne. Die Richtlinie 98/59 knüpfe ein Tätigwerden der zuständigen Behörde erst an die Massenentlassungsanzeige des Arbeitgebers gemäß ihrem Art. 3 Abs. 1. Zu dem dieser Anzeige vorausgehenden Zeitpunkt, zu dem die in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 vorgesehene Übermittlung erfolgen müsse, also vor Abschluss der Konsultationen mit den Arbeitnehmern, stehe hingegen noch nicht endgültig fest, ob und wie viele Arbeitnehmer wann auf den Arbeitsmarkt gelangten und welche Arbeitnehmer betroffen seien. Aus diesem Blickwinkel hätte die letztgenannte Bestimmung nur verfahrenstechnischen Charakter, und ein Verstoß gegen sie in ihrer in deutsches Recht umgesetzten Form würde daher auch unter Berücksichtigung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität nicht die Nichtigkeit der Kündigung des einzelnen von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmers nach sich ziehen.

Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Welchem Zweck dient Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59, wonach der Arbeitgeber der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung an die Arbeitnehmervertretung zu übermitteln hat?

 

Zur Vorlagefrage

Wie sich aus den Rn. 16 bis 21 des vorliegenden Urteils ergibt, fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof nach dem Zweck von Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59, der den Arbeitgeber verpflichtet, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung an die Arbeitnehmervertreter zu übermitteln. Dabei möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Rechtsfolgen – mangels näherer Angaben hierzu in der Richtlinie 98/59 – im nationalen Recht angesichts der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz an einen Verstoß gegen diese Verpflichtung geknüpft werden können.

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht somit im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 dahin auszulegen ist, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in ihrem Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln, den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.

Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen ist, sondern auch der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Die Entstehungsgeschichte einer Bestimmung des Unionsrechts kann ebenfalls relevante Anhaltspunkte für ihre Auslegung liefern (Urteil vom 2. September 2021, CRCAM, C‑337/20, EU:C:2021:671, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Erstens ist zum Wortlaut von Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59, wonach „[d]er Arbeitgeber … der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Unterabsatz 1 Buchstabe b) Ziffern i) bis v) genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln [hat]“, festzustellen, dass er keine Anhaltspunkte enthält, die geeignet wären, Aufschluss über den Zweck der in dieser Bestimmung vorgesehenen Übermittlungspflicht zu geben.

Daher ist zweitens der Zusammenhang zu untersuchen, in den sich Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 einfügt.

Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung nicht zu Teil III („Massenentlassungsverfahren“) der Richtlinie gehört, sondern zu ihrem Teil II („Information und Konsultation“), der, wie aus ihrem Art. 2 Abs. 1 hervorgeht, das Verfahren zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter für den Fall regelt, dass ein Arbeitgeber eine Massenentlassung beabsichtigt. Somit muss die Übermittlung der in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 genannten Informationen in einem Stadium erfolgen, in dem Massenentlassungen lediglich „beabsichtigt“ sind und in dem das Verfahren zur Konsultation der Arbeitnehmervertreter erst beginnt und noch nicht abgeschlossen ist.

Nach Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 98/59 besteht der Zweck der Konsultationen mit den Arbeitnehmervertretern darin, Kündigungen von Arbeitsverträgen zu vermeiden oder ihre Zahl zu beschränken sowie ihre Folgen zu mildern. Außerdem setzen der Sinn und Zweck sowie die Effizienz dieser Konsultationen voraus, dass die maßgeblichen Kriterien festgelegt werden, die im Zuge der Konsultationen zu berücksichtigen sind (Urteil vom 10. September 2009, Akavan Erityisalojen Keskusliitto AEK u. a., C‑44/08, EU:C:2009:533, Rn. 46).

Der Gerichtshof hat überdies klargestellt, dass die Auskünfte gemäß Art. 2 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 98/59 im Verlauf der Konsultationen erteilt werden können und nicht unbedingt zum Zeitpunkt der Eröffnung des Verfahrens zu ihrer Durchführung zu erteilen sind, denn eine flexible Handhabung ist insbesondere deshalb unerlässlich, weil diese Pflicht des Arbeitgebers den Arbeitnehmervertretern eine möglichst weitgehende und effektive Beteiligung am Entscheidungsprozess ermöglichen soll, und hierfür müssen bis zum Abschluss der Konsultationen alle einschlägigen neuen Informationen erteilt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2009, Akavan Erityisalojen Keskusliitto AEK u. a., C‑44/08, EU:C:2009:533, Rn. 52 und 53).

Daraus folgt, dass die Auskünfte, die der Arbeitgeber den Arbeitnehmervertretern zu erteilen hat, im Lauf der Zeit einer Entwicklung unterliegen und sich ändern können, damit die Arbeitnehmervertreter in die Lage versetzt werden, konstruktive Vorschläge zu unterbreiten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2009, Akavan Erityisalojen Keskusliitto AEK u. a., C‑44/08, EU:C:2009:533, Rn. 51).

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 vorgesehene Übermittlung von Informationen es der zuständigen Behörde nur ermöglicht, sich über die Gründe der geplanten Entlassung, die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, sowie die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, soweit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken dem Arbeitgeber die Zuständigkeit dafür zuerkennen, einen Überblick zu verschaffen.

Diese Behörde kann daher nicht voll und ganz auf die übermittelten Informationen vertrauen, um die bei einer Massenentlassung in ihre Zuständigkeit fallenden Maßnahmen vorzubereiten.

Zum anderen wird der zuständigen Behörde im Verfahren der Konsultation der Arbeitnehmervertreter keine aktive Rolle zugewiesen. Nach Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 ist sie nämlich nur die Adressatin einer Abschrift der in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung, während sie nach den Art. 3 und 4 der Richtlinie, die zu deren Teil III („Massenentlassungsverfahren“) gehören, eine solche aktive Rolle hat.

So sehen die Art. 3 und 4 der Richtlinie 98/59 vor, dass die beabsichtigten Massenentlassungen der zuständigen Behörde anzuzeigen sind und dass sie erst nach Ablauf einer bestimmten Frist wirksam werden können, die von dieser Behörde dazu genutzt werden muss, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen (Urteil vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis, C‑201/15, EU:C:2016:972, Rn. 40). Wie der Generalanwalt in Nr. 34 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, soll diese Anzeigepflicht es der zuständigen Behörde ermöglichen, auf der Grundlage aller ihr vom Arbeitgeber übermittelten Informationen zu ergründen, welche Möglichkeiten bestehen, durch Maßnahmen, die an die Gegebenheiten des Arbeitsmarkts und der Wirtschaftstätigkeit, unter denen die Massenentlassungen stattfinden, angepasst sind, die negativen Folgen der Entlassungen zu begrenzen. Im Gegensatz hierzu setzt die Übermittlung einer Abschrift der in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie genannten Auskünfte an diese Behörde weder eine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang noch schafft sie eine Verpflichtung für die zuständige Behörde.

Daher dient die in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 vorgesehene Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, damit sie gegebenenfalls ihre Befugnisse aus Art. 4 der Richtlinie wirksam ausüben kann. Somit besteht der Zweck der Verpflichtung, Informationen an die zuständige Behörde zu übermitteln, darin, es ihr zu ermöglichen, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen so weit wie möglich abzuschätzen, damit sie, wenn ihr diese Entlassungen angezeigt werden, in effizienter Weise nach Lösungen für die dadurch entstehenden Probleme suchen kann.

In Anbetracht des Zwecks dieser Informationsübermittlung und der Tatsache, dass sie in einem Stadium erfolgt, in dem der Arbeitgeber die Massenentlassungen nur beabsichtigt, soll sich die zuständige Behörde, wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmers befassen, sondern die beabsichtigten Massenentlassungen allgemein betrachten. Der Gerichtshof hat im Übrigen bereits entschieden, dass das in Art. 2 der Richtlinie 98/59 vorgesehene Recht auf Information und Konsultation zugunsten der Arbeitnehmer als Gemeinschaft ausgestaltet und kollektiver Natur ist (Urteil vom 6. Juli 2009, Mono Car Styling, C‑12/08, EU:C:2009:466, Rn. 42). Daraus folgt, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie den Arbeitnehmern einen kollektiven und keinen individuellen Schutz gewährt.

Drittens wird die in der vorstehenden Randnummer getroffene Feststellung durch das Hauptziel der Richtlinie 98/59 bestätigt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht dieses Ziel nämlich darin, dass vor Massenentlassungen eine Konsultation der Arbeitnehmervertreter durchgeführt und die zuständige Behörde unterrichtet wird (Urteil vom 17. März 2021, Consulmarketing, C‑652/19, EU:C:2021:208, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Stadium der Konsultation der Arbeitnehmervertreter, die sich nach Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie auf die Möglichkeit erstreckt, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen zu mildern, wird diese Unterrichtung der zuständigen Behörde durch Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie gewährleistet.

Was viertens die Entstehungsgeschichte von Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 betrifft, hat der Generalanwalt in Nr. 37 seiner Schlussanträge zutreffend darauf hingewiesen, dass mit dieser Richtlinie die Richtlinie 75/129/EWG des Rates vom 17. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. 1975, L 48, S. 29) neu gefasst wurde. Aus den Vorarbeiten zur Richtlinie 75/129 geht aber hervor, dass die in ihrem Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 enthaltene Verpflichtung, die den Arbeitnehmervertretern erteilten Auskünfte der zuständigen Behörde zu übermitteln, vorgeschlagen worden war, weil eine solche Verpflichtung für sinnvoll erachtet wurde, um es den zuständigen Behörden zu ermöglichen, unverzüglich Kenntnis von einer Situation zu erlangen, die möglicherweise entscheidende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat, und sich auf die gegebenenfalls erforderlichen Maßnahmen vorzubereiten (Ratsdokument 754/74).

Daraus folgt, dass auch die Entstehungsgeschichte von Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 die Feststellung stützt, dass die nach dieser Bestimmung bestehende Verpflichtung zur Übermittlung von Auskünften den in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannten Informations- und Vorbereitungszwecken dient.

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59 dahin auszulegen ist, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in ihrem Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln, nicht den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.

Kosten

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen

ist dahin auszulegen, dass

die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in ihrem Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung zu übermitteln, nicht den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.



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