Europäischer Gerichtshof
- Az: C-311/21
Geringer Lohn von Leiharbeitnehmer ist auszugleichen
(2.) Zu den wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gehören die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und das Arbeitsentgelt.
(Redaktionelle Orientierungssätze)
Urteil
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit (ABl. 2008, L 327, S. 9).
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen CM und der TimePartner Personalmanagement GmbH (im Folgenden: TimePartner) über die Höhe des Arbeitsentgelts, das TimePartner für die von CM bei einem entleihenden Unternehmen geleistete Leiharbeit schuldet.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Erwägungsgründe 10 bis 12, 16 und 19 der Richtlinie 2008/104 lauten:
„(10) In Bezug auf die Inanspruchnahme der Leiharbeit sowie die rechtliche Stellung, den Status und die Arbeitsbedingungen der Leiharbeitnehmer lassen sich innerhalb der Union große Unterschiede feststellen.
(11) Die Leiharbeit entspricht nicht nur dem Flexibilitätsbedarf der Unternehmen, sondern auch dem Bedürfnis der Arbeitnehmer, Beruf und Privatleben zu vereinbaren. Sie trägt somit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Teilnahme am und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt bei.
(12) Die vorliegende Richtlinie legt einen diskriminierungsfreien, transparenten und verhältnismäßigen Rahmen zum Schutz der Leiharbeitnehmer fest und wahrt gleichzeitig die Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen.
…
(16) Um der Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen auf flexible Weise gerecht zu werden, können die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern gestatten, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festzulegen, sofern das Gesamtschutzniveau für Leiharbeitnehmer gewahrt bleibt.
…
(19) Die vorliegende Richtlinie beeinträchtigt weder die Autonomie der Sozialpartner, noch sollte sie die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern beeinträchtigen, einschließlich des Rechts, Tarifverträge gemäß nationalem Recht und nationalen Gepflogenheiten bei gleichzeitiger Einhaltung des geltenden Gemeinschaftsrechts auszuhandeln und zu schließen.“
Art. 2 („Ziel“) dieser Richtlinie lautet:
„Ziel dieser Richtlinie ist es, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gemäß Artikel 5 gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeber anerkannt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein angemessener Rahmen für den Einsatz von Leiharbeit festgelegt werden muss, um wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung flexibler Arbeitsformen beizutragen.“
Art. 3 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie lautet:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
‚wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen‘ die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die durch Gesetz, Verordnung, Verwaltungsvorschrift, Tarifvertrag und/oder sonstige verbindliche Bestimmungen allgemeiner Art, die im entleihenden Unternehmen gelten, festgelegt sind und sich auf folgende Punkte beziehen:
i) Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage,
ii) Arbeitsentgelt.“
Art. 5 („Grundsatz der Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2008/104 bestimmt:
„(1) Die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer entsprechen während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen, die für sie gelten würden, wenn sie von jenem genannten Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären.
Bei der Anwendung von Unterabsatz 1 müssen die im entleihenden Unternehmen geltenden Regeln in Bezug auf
a) den Schutz schwangerer und stillender Frauen und den Kinder- und Jugendschutz sowie
b) die Gleichbehandlung von Männern und Frauen und sämtliche Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, der Rasse oder der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung
so eingehalten werden, wie sie durch Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsvorschriften, Tarifverträge und/oder sonstige Bestimmungen allgemeiner Art festgelegt sind.
(2) In Bezug auf das Arbeitsentgelt können die Mitgliedstaaten nach Anhörung der Sozialpartner die Möglichkeit vorsehen, dass vom Grundsatz des Absatzes 1 abgewichen wird, wenn Leiharbeitnehmer, die einen unbefristeten Vertrag mit dem Leiharbeitsunternehmen abgeschlossen haben, auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt werden.
(3) Die Mitgliedstaaten können nach Anhörung der Sozialpartner diesen die Möglichkeit einräumen, auf der geeigneten Ebene und nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern, welche von den in Absatz 1 aufgeführten Regelungen abweichen können, enthalten können.
(4) Sofern Leiharbeitnehmern ein angemessenes Schutzniveau gewährt wird, können Mitgliedstaaten, in denen es entweder kein gesetzliches System, durch das Tarifverträge allgemeine Gültigkeit erlangen, oder kein gesetzliches System bzw. keine Gepflogenheiten zur Ausweitung von deren Bestimmungen auf alle vergleichbaren Unternehmen in einem bestimmten Sektor oder bestimmten geografischen Gebiet gibt, – nach Anhörung der Sozialpartner auf nationaler Ebene und auf der Grundlage einer von ihnen geschlossenen Vereinbarung – Regelungen in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern festlegen, die vom Grundsatz des Absatzes 1 abweichen. Zu diesen Regelungen kann auch eine Wartezeit für Gleichbehandlung zählen.
Die in diesem Absatz genannten Regelungen müssen mit den gemeinschaftlichen Bestimmungen in Einklang stehen und hinreichend präzise und leicht zugänglich sein, damit die betreffenden Sektoren und Firmen ihre Verpflichtungen bestimmen und einhalten können. Insbesondere müssen die Mitgliedstaaten in Anwendung des Artikels 3 Absatz 2 angeben, ob betriebliche Systeme der sozialen Sicherheit, einschließlich Rentensysteme, Systeme zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Systeme der finanziellen Beteiligung, zu den in Absatz 1 genannten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zählen. Solche Vereinbarungen lassen Vereinbarungen auf nationaler, regionaler, lokaler oder sektoraler Ebene, die für Arbeitnehmer nicht weniger günstig sind, unberührt.
(5) Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen gemäß ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten, um eine missbräuchliche Anwendung dieses Artikels zu verhindern und um insbesondere aufeinander folgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern. Sie unterrichten die [Europäische] Kommission über solche Maßnahmen.“
Art. 9 („Mindestvorschriften“) dieser Richtlinie lautet:
„(1) Diese Richtlinie lässt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, für Arbeitnehmer günstigere Rechts- und Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder den Abschluss von Tarifverträgen oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zu fördern oder zuzulassen, die für die Arbeitnehmer günstiger sind.
(2) Die Durchführung dieser Richtlinie ist unter keinen Umständen ein hinreichender Grund zur Rechtfertigung einer Senkung des allgemeinen Schutzniveaus für Arbeitnehmer in den von dieser Richtlinie abgedeckten Bereichen. Dies gilt unbeschadet der Rechte der Mitgliedstaaten und/oder der Sozialpartner, angesichts sich wandelnder Bedingungen andere Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder vertragliche Regelungen festzulegen als diejenigen, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Richtlinie gelten, sofern die Mindestvorschriften dieser Richtlinie eingehalten werden.“
Art. 11 („Umsetzung“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten setzen die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft und veröffentlichen sie, um dieser Richtlinie bis spätestens zum 5. Dezember 2011 nachzukommen, oder sie vergewissern sich, dass die Sozialpartner die erforderlichen Vorschriften im Wege von Vereinbarungen festlegen; dabei sind die Mitgliedstaaten gehalten, die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit sie jederzeit gewährleisten können, dass die Ziele dieser Richtlinie erreicht werden. Sie setzen die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.“
Deutsches Recht
§ 9 Nr. 2 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes vom 3. Februar 1995 (BGBl. 1995 I S. 158, im Folgenden: AÜG) in der bis zum 31. März 2017 geltenden Fassung lautete:
„Unwirksam sind:
…
2. Vereinbarungen, die für den Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an einen Entleiher schlechtere als die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts vorsehen; ein Tarifvertrag kann abweichende Regelungen zulassen, soweit er nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Absatz 2 festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet; im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren; eine abweichende tarifliche Regelung gilt nicht für Leiharbeitnehmer, die in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung an den Entleiher aus einem Arbeitsverhältnis bei diesem oder einem Arbeitgeber, der mit dem Entleiher einen Konzern im Sinne des § 18 des Aktiengesetzes bildet, ausgeschieden sind,
…“
§ 10 Abs. 4 AÜG in der bis zum 31. März 2017 geltenden Fassung bestimmte:
„Der Verleiher ist verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren. Soweit ein auf das Arbeitsverhältnis anzuwendender Tarifvertrag abweichende Regelungen trifft (§ 3 Absatz 1 Nummer 3, § 9 Nummer 2), hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die nach diesem Tarifvertrag geschuldeten Arbeitsbedingungen zu gewähren. Soweit ein solcher Tarifvertrag die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Absatz 2 festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet, hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer für jede Arbeitsstunde das im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers für eine Arbeitsstunde zu zahlende Arbeitsentgelt zu gewähren. Im Falle der Unwirksamkeit der Vereinbarung zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer nach § 9 Nummer 2 hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren.“
§ 8 AÜG in der durch das Gesetz vom 21. Februar 2017 (BGBl. 2017 I S. 258) geänderten Fassung, in Kraft getreten am 1. April 2017, bestimmt:
„(1) Der Verleiher ist verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren (Gleichstellungsgrundsatz). Erhält der Leiharbeitnehmer das für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers im Entleihbetrieb geschuldete tarifvertragliche Arbeitsentgelt oder in Ermangelung eines solchen ein für vergleichbare Arbeitnehmer in der Einsatzbranche geltendes tarifvertragliches Arbeitsentgelt, wird vermutet, dass der Leiharbeitnehmer hinsichtlich des Arbeitsentgelts im Sinne von Satz 1 gleichgestellt ist. Werden im Betrieb des Entleihers Sachbezüge gewährt, kann ein Wertausgleich in Euro erfolgen.
(2) Ein Tarifvertrag kann vom Gleichstellungsgrundsatz abweichen, soweit er nicht die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Absatz 2 festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet. Soweit ein solcher Tarifvertrag vom Gleichstellungsgrundsatz abweicht, hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer die nach diesem Tarifvertrag geschuldeten Arbeitsbedingungen zu gewähren. Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung des Tarifvertrages vereinbaren. Soweit ein solcher Tarifvertrag die in einer Rechtsverordnung nach § 3a Absatz 2 festgesetzten Mindeststundenentgelte unterschreitet, hat der Verleiher dem Leiharbeitnehmer für jede Arbeitsstunde das im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers für eine Arbeitsstunde zu zahlende Arbeitsentgelt zu gewähren.
(3) Eine abweichende tarifliche Regelung im Sinne von Absatz 2 gilt nicht für Leiharbeitnehmer, die in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung an den Entleiher aus einem Arbeitsverhältnis bei diesem oder einem Arbeitgeber, der mit dem Entleiher einen Konzern im Sinne des § 18 des Aktiengesetzes bildet, ausgeschieden sind.
(4) Ein Tarifvertrag im Sinne des Absatzes 2 kann hinsichtlich des Arbeitsentgelts vom Gleichstellungsgrundsatz für die ersten neun Monate einer Überlassung an einen Entleiher abweichen. Eine längere Abweichung durch Tarifvertrag ist nur zulässig, wenn
1. nach spätestens 15 Monaten einer Überlassung an einen Entleiher mindestens ein Arbeitsentgelt erreicht wird, das in dem Tarifvertrag als gleichwertig mit dem tarifvertraglichen Arbeitsentgelt vergleichbarer Arbeitnehmer in der Einsatzbranche festgelegt ist, und
2. nach einer Einarbeitungszeit von längstens sechs Wochen eine stufenweise Heranführung an dieses Arbeitsentgelt erfolgt.
Im Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Anwendung der tariflichen Regelungen vereinbaren. Der Zeitraum vorheriger Überlassungen durch denselben oder einen anderen Verleiher an denselben Entleiher ist vollständig anzurechnen, wenn zwischen den Einsätzen jeweils nicht mehr als drei Monate liegen.
(5) Der Verleiher ist verpflichtet, dem Leiharbeitnehmer mindestens das in einer Rechtsverordnung nach § 3a Absatz 2 für die Zeit der Überlassung und für Zeiten ohne Überlassung festgesetzte Mindeststundenentgelt zu zahlen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
CM war von Januar bis April 2017 bei TimePartner, einem Leiharbeitsunternehmen, auf Grundlage eines befristeten Arbeitsvertrags als Leiharbeitnehmerin beschäftigt. In diesem Rahmen wurde sie einem Unternehmen des Einzelhandels als Kommissioniererin überlassen.
Die vergleichbaren Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens, für die der Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern (Deutschland) gilt, erhielten einen Bruttostundenlohn von 13,64 Euro.
CM erhielt während ihrer Überlassung an dieses Unternehmen einen Bruttostundenlohn von 9,23 Euro, und zwar gemäß dem Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer, der zwischen dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e. V., dem TimePartner angehörte, und dem Deutschen Gewerkschaftsbund, dem die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft angehörte, in der CM Mitglied war, geschlossen worden war.
Dieser Tarifvertrag wich für die Monate Januar bis März 2017 von dem in § 10 Abs. 4 Satz 1 AÜG in der bis zum 31. März 2017 geltenden Fassung und für den Monat April 2017 von dem in § 8 Abs. 1 AÜG in der ab dem 1. April 2017 geltenden Fassung verankerten Grundsatz der Gleichstellung ab, indem er für Leiharbeitnehmer ein geringeres Arbeitsentgelt als für Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens vorsah.
CM erhob beim Arbeitsgericht Würzburg (Deutschland) Klage auf zusätzliches Arbeitsentgelt in Höhe von 1 296,72 Euro, d. h. den Differenzbetrag, den sie erhalten hätte, wenn sie nach dem Lohntarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern vergütet worden wäre. Sie machte geltend, dass die einschlägigen Bestimmungen des AÜG und des Tarifvertrags für Leiharbeitnehmer nicht mit Art. 5 der Richtlinie 2008/104 vereinbar seien. TimePartner bestritt, dass sie verpflichtet sei, ein anderes Arbeitsentgelt als das im Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer vorgesehene zu zahlen.
Nachdem die Klage abgewiesen worden war, legte CM Berufung beim Landesarbeitsgericht Nürnberg (Deutschland) ein, die zurückgewiesen wurde. Daraufhin hat CM Revision beim vorlegenden Gericht, dem Bundesarbeitsgericht (Deutschland), eingelegt.
Nach Ansicht dieses Gerichts hängt der Ausgang der Revision von der Auslegung von Art. 5 der Richtlinie 2008/104 ab.
Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Wie definiert sich der Begriff des „Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern“ in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104, umfasst er insbesondere mehr als das, was nationales und Unionsrecht als Schutz für alle Arbeitnehmer zwingend vorgeben?
2. Welche Voraussetzungen und Kriterien müssen erfüllt sein für die Annahme, von dem in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 festgelegten Grundsatz der Gleichbehandlung abweichende Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern in einem Tarifvertrag seien unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfolgt?
a) Ist die Prüfung der Achtung des Gesamtschutzes – abstrakt – auf die tariflichen Arbeitsbedingungen der unter den Geltungsbereich eines solchen Tarifvertrags fallenden Leiharbeitnehmer bezogen, oder ist eine vergleichende, wertende Betrachtung zwischen den tariflichen und den Arbeitsbedingungen geboten, die in dem Unternehmen bestehen, in das die Leiharbeitnehmer überlassen werden (Entleiher)?
b) Verlangt bei einer Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt die in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 vorgegebene Achtung des Gesamtschutzes, dass zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht?
3. Müssen die Voraussetzungen und Kriterien für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 den Sozialpartnern vom nationalen Gesetzgeber vorgegeben werden, wenn er ihnen die Möglichkeit einräumt, Tarifverträge zu schließen, die von dem Gebot der Gleichbehandlung abweichende Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern enthalten, und das nationale Tarifsystem Anforderungen vorsieht, die zwischen den Tarifvertragsparteien einen angemessenen Interessenausgleich erwarten lassen (sogenannte Richtigkeitsgewähr von Tarifverträgen)?
4. Falls die dritte Frage bejaht wird:
a) Ist die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern im Sinne des Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 gewahrt mit gesetzlichen Regelungen, die wie die seit dem 1. April 2017 geltende Fassung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes eine Lohnuntergrenze für Leiharbeitnehmer, eine Höchstdauer für die Überlassung an denselben Entleiher, eine zeitliche Begrenzung der Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt, die Nichtgeltung einer vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichenden tariflichen Regelung für Leiharbeitnehmer, die in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung an den Entleiher bei diesem oder einem Arbeitgeber, der mit dem Entleiher einen Konzern im Sinne des § 18 des Aktiengesetzes bildet, ausgeschieden sind sowie die Verpflichtung des Entleihers, dem Leiharbeitnehmer grundsätzlich unter den gleichen Bedingungen, wie sie für Stammarbeitnehmer gelten, Zugang zu den Gemeinschaftseinrichtungen oder ‑diensten (wie insbesondere Kinderbetreuungseinrichtungen, Gemeinschaftsverpflegung und Beförderungsmittel) zu gewähren, vorsehen?
b) Falls dies bejaht wird:
Gilt das auch dann, wenn in entsprechenden gesetzlichen Regelungen wie in der bis zum 31. März 2017 geltenden Fassung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes eine zeitliche Begrenzung der Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt nicht vorgesehen ist und das Erfordernis, dass die Überlassung nur „vorübergehend“ sein darf, zeitlich nicht konkretisiert wird?
5. Falls die dritte Frage verneint wird:
Dürfen die nationalen Gerichte bei vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichenden Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern durch Tarifverträge gemäß Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 diese Tarifverträge ohne Einschränkung daraufhin überprüfen, ob die Abweichungen unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfolgt sind, oder gebieten Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und/oder der Hinweis auf die „Autonomie der Sozialpartner“ im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/104, den Tarifvertragsparteien in Bezug auf die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern einen gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum einzuräumen, und – wenn ja – wie weit reicht dieser?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
Mit Schreiben, das am 11. Oktober 2022 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat TimePartner die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt. Zur Begründung macht sie geltend, dass ein Gesichtspunkt, der von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs sei, noch nicht erörtert worden sei, nämlich, dass in der Europäischen Union verschiedene Zeitarbeitssysteme existierten, was dazu führe, dass sich die dem Leiharbeitsunternehmen obliegende soziale Sicherung des Leiharbeitnehmers, insbesondere während einsatzfreier Zeiten, zwischen den Mitgliedstaaten erheblich unterscheide. Der Gerichtshof sei daher nicht ausreichend unterrichtet, um zu entscheiden.
Nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für seine Entscheidung ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er unter Berücksichtigung der tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, die zum einen vom vorlegenden Gericht und zum anderen von TimePartner und den anderen Beteiligten, die sowohl am schriftlichen als auch am mündlichen Verfahren teilgenommen haben, vorgelegt worden sind, über alle für die Entscheidung erforderlichen Angaben verfügt.
Folglich ist der Antrag von TimePartner auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zurückzuweisen.
Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens
CM macht geltend, dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei. Insbesondere seien die erste und die zweite Frage, mit denen das vorlegende Gericht den Gerichtshof ersucht, den Begriff „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 zu definieren, für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erforderlich, da dieser Begriff im deutschen Recht unbekannt sei.
Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 7. Juli 2022, Coca-Cola European Partners Deutschland, C‑257/21 und C‑258/21, EU:C:2022:529, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Infolgedessen spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 7. Juli 2022, Coca-Cola European Partners Deutschland, C‑257/21 und C‑258/21, EU:C:2022:529, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zwar ist die erste Frage, die die Auslegung des Begriffs „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 betrifft, allgemein formuliert.
Aus dem Vorlagebeschluss geht jedoch hervor, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof ersucht, diesen Begriff in einem ersten Schritt zu definieren, um in einem zweiten Schritt mit der zweiten Frage feststellen zu können, inwiefern ein Tarifvertrag vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern gemäß Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 abweichen kann. Sollte nämlich der Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer gegen diese Bestimmung verstoßen, könnte CM Anspruch auf ein zusätzliches Arbeitsentgelt in der von ihr geforderten Höhe haben. Die erste und die zweite Frage sind daher für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht offensichtlich unerheblich.
Das Vorabentscheidungsersuchen ist somit zulässig.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung durch ihre Bezugnahme auf den Begriff „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ erfordert, ein den Leiharbeitnehmern eigenes Schutzniveau zu berücksichtigen, das über dasjenige hinausgeht, das durch nationales Recht und Unionsrecht betreffend die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die Arbeitnehmer im Allgemeinen festgelegt ist.
Nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 können die Mitgliedstaaten nach Anhörung der Sozialpartner diesen die Möglichkeit einräumen, auf der geeigneten Ebene und nach Maßgabe der von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die unter Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern Regelungen in Bezug auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern enthalten können, welche von den in Abs. 1 dieses Artikels aufgeführten Regelungen abweichen können, d. h. von den Regelungen, nach denen die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen mindestens denjenigen entsprechen, die für sie gelten würden, wenn sie von dem Unternehmen, in dem sie als Leiharbeitnehmer tätig sind, unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären.
Der Begriff „wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ ist in Art. 3 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2008/104 definiert und bezieht sich auf die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und Arbeitsentgelt.
Somit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104, dass der den Mitgliedstaaten eingeräumten Möglichkeit, den Sozialpartnern zu gestatten, Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die Ungleichbehandlungen in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmern zulassen, die Pflicht gegenübersteht, für die Leiharbeitnehmer einen „Gesamtschutz“ zu achten, ohne dass dieser Begriff in der Richtlinie jedoch inhaltlich definiert würde.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts jedoch nicht nur ihr Wortlaut entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgt werden (Urteil vom 17. März 2022, Daimler, C‑232/20, EU:C:2022:196, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Hinsichtlich der mit der Richtlinie 2008/104 verfolgten Ziele geht aus den Erwägungsgründen 10 bis 12 der Richtlinie hervor, dass sich in Bezug auf die rechtliche Stellung, den Status und die Arbeitsbedingungen der Leiharbeitnehmer innerhalb der Union große Unterschiede feststellen lassen, dass die Leiharbeit nicht nur dem Flexibilitätsbedarf der Unternehmen, sondern auch dem Bedürfnis der Arbeitnehmer, Beruf und Privatleben zu vereinbaren, entspricht und somit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Teilnahme am und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt beiträgt und dass die Richtlinie einen diskriminierungsfreien, transparenten und verhältnismäßigen Rahmen zum Schutz der Leiharbeitnehmer festlegen und gleichzeitig die Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen wahren soll.
Was speziell das Ziel von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 betrifft, geht aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie hervor, dass, um der Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen auf flexible Weise gerecht zu werden, die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern gestatten können, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festzulegen, sofern das Gesamtschutzniveau für Leiharbeitnehmer gewahrt bleibt.
Anknüpfend an diese Erwägungsgründe heißt es in Art. 2 der Richtlinie, dass es deren Ziel ist, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeber anerkannt werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass ein angemessener Rahmen für den Einsatz von Leiharbeit festgelegt werden muss, um wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Entwicklung flexibler Arbeitsformen beizutragen.
Dieses doppelte Ziel spiegelt sich in der Struktur von Art. 5 der Richtlinie 2008/104 wider, dessen Abs. 1 die Regel aufstellt, dass die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. f dieser Richtlinie mindestens denjenigen der eigenen Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens entsprechen. Von dieser Regel weicht insbesondere die in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie vorgesehene Bestimmung ab. Diese Abweichung muss sich jedoch innerhalb der Grenzen des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern halten. Ihr Umfang ist darüber hinaus auf das zur Wahrung des Interesses, dessen Schutz die auf der Grundlage dieser Bestimmung angenommene Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz ermöglicht, unbedingt Erforderliche begrenzt, nämlich des Interesses, das sich aus der Notwendigkeit ergibt, der Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen auf flexible Weise gerecht zu werden (Urteil vom 21. Oktober 2010, Accardo u. a., C‑227/09, EU:C:2010:624, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Um somit das in Art. 2 der Richtlinie 2008/104 genannte Ziel, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen, mit der Achtung der Vielfalt der Arbeitsmärkte in Einklang zu bringen, ist davon auszugehen, dass der „Gesamtschutz“ von Leiharbeitnehmern in dem Fall, dass ein Tarifvertrag auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie abweichend von deren Art. 5 Abs. 1 zum Nachteil der Leiharbeitnehmer eine Ungleichbehandlung in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen im Vergleich zu den für die eigenen Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens geltenden zulässt, nur dann gewährleistet ist, wenn ihnen im Gegenzug Vorteile gewährt werden, die die Auswirkungen dieser Ungleichbehandlung ausgleichen sollen. Der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern wäre nämlich zwangsläufig geschwächt, wenn sich ein solcher Tarifvertrag in Bezug auf die Leiharbeitnehmer darauf beschränkte, eine oder mehrere dieser wesentlichen Bedingungen zu verschlechtern.
Angesichts der Tragweite von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104, wonach für Leiharbeitnehmer die gleichen wesentlichen Bedingungen gelten sollen wie für die eigenen Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens, erfordert die Achtung des Gesamtschutzes im Sinne von Art. 5 Abs. 3 jedoch nicht, ein den Leiharbeitnehmern eigenes Schutzniveau zu berücksichtigen, das über dasjenige hinausgeht, das in Bezug auf diese Bedingungen in den verbindlichen Schutzbestimmungen des nationalen Rechts und des Unionsrechts für die Arbeitnehmer im Allgemeinen vorgesehen ist.
Die Vorteile zum Ausgleich der Auswirkungen einer Ungleichbehandlung zum Nachteil der Leiharbeitnehmer wie der in Rn. 39 des vorliegenden Urteils erwähnten müssen sich auf die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2008/104 definierten wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen beziehen, d. h. auf diejenigen, die die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und das Arbeitsentgelt betreffen.
Diese Auslegung von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 wird durch seinen Kontext bestätigt. Denn Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie ermöglicht es den Mitgliedstaaten im Wesentlichen, nach Anhörung der Sozialpartner in Bezug auf das Arbeitsentgelt von dem in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehenen Grundsatz der Gleichbehandlung abzuweichen, wenn Leiharbeitnehmer insbesondere auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt werden. Dürfen also die Mitgliedstaaten das Arbeitsentgelt von Leiharbeitnehmern nur dann niedriger festsetzen, als es der Grundsatz der Gleichbehandlung gebieten würde, wenn dieser Nachteil durch die Gewährung eines Vorteils ausgeglichen wird, der sich in diesem Fall auf dieselbe wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingung, nämlich das Arbeitsentgelt, bezieht, wäre es paradox, hinzunehmen, dass die Sozialpartner, die doch verpflichtet sind, den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern zu achten, so vorgehen dürften, ohne ihrerseits verpflichtet zu sein, in dem betreffenden Tarifvertrag die Gewährung eines Vorteils in Bezug auf diese wesentlichen Bedingungen vorzusehen.
Das gilt erst recht für Leiharbeitnehmer, die nur über einen befristeten Vertrag verfügen und denen, da sie wohl eher selten in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt werden, ein erheblicher ausgleichender Vorteil in Bezug auf diese wesentlichen Bedingungen gewährt werden muss, der im Wesentlichen mindestens das gleiche Niveau haben muss wie der, der Leiharbeitnehmern mit einem unbefristeten Vertrag gewährt wird.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung durch ihre Bezugnahme auf den Begriff „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ nicht erfordert, ein den Leiharbeitnehmern eigenes Schutzniveau zu berücksichtigen, das über dasjenige hinausgeht, das durch nationales Recht und Unionsrecht betreffend die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die Arbeitnehmer im Allgemeinen festgelegt ist. Lassen die Sozialpartner jedoch durch einen Tarifvertrag Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zu, muss dieser Tarifvertrag, um den Gesamtschutz der betroffenen Leiharbeitnehmer zu achten, ihnen diese Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, die geeignet sind, ihre Ungleichbehandlung auszugleichen.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage, die in zwei Unterfragen unterteilt ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, unter welchen Voraussetzungen bei einem Tarifvertrag, der Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zulässt, gleichwohl davon ausgegangen werden kann, dass der Gesamtschutz der betroffenen Leiharbeitnehmer gemäß Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 geachtet wird.
Zur Frage 2a
Mit der Frage 2a möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass die Frage, ob die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfüllt ist, abstrakt anhand eines eine Ungleichbehandlung zulassenden Tarifvertrags oder konkret durch einen Vergleich mit den wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die für vergleichbare, unmittelbar von dem entleihenden Unternehmen eingestellte Arbeitnehmer gelten, zu beurteilen ist.
Nach Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/104 müssen die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leiharbeitnehmer während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen entsprechen, die für sie gelten würden, wenn sie von dem betreffenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären (Urteil vom 12. Mai 2022, Luso Temp, C‑426/20, EU:C:2022:373, Rn. 49). Der Unionsgesetzgeber hat damit seine Absicht zum Ausdruck gebracht, dafür zu sorgen, dass die Leiharbeitnehmer nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung grundsätzlich nicht schlechter gestellt werden als vergleichbare Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens.
Die Leiharbeitnehmer haben somit grundsätzlich Anspruch auf die gleichen wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die für sie gelten würden, wenn das entleihende Unternehmen sie unmittelbar eingestellt hätte. Somit ergibt sich aus dem Charakter von Art. 5 Abs. 3 als Abweichung, auf den in Rn. 38 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, sowie aus dem in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Ziel der Richtlinie 2008/104, dass nach der in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie vorgesehenen abweichenden Bestimmung konkret zu prüfen ist, ob ein Tarifvertrag, der eine Ungleichbehandlung von Leiharbeitnehmern und vergleichbaren Arbeitnehmern des entleihenden Unternehmens in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zulässt, tatsächlich den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern achtet, indem er ihnen bestimmte Vorteile einräumt, die die Auswirkungen dieser Ungleichbehandlung ausgleichen sollen. Diese Prüfung ist daher in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen vorzunehmen, die für vergleichbare Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens gelten.
Somit sind in einem ersten Schritt die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu bestimmen, die für den Leiharbeitnehmer gelten würden, wenn er von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wäre. In einem zweiten Schritt sind diese wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen mit denen zu vergleichen, die sich aus dem Tarifvertrag ergeben, dem der Leiharbeitnehmer tatsächlich unterliegt (vgl. entsprechend Urteil vom 12. Mai 2022, Luso Temp, C‑426/20, EU:C:2022:373, Rn. 50). In einem dritten Schritt ist, um den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern zu achten, zu beurteilen, ob die gewährten Ausgleichsvorteile eine Neutralisierung der Ungleichbehandlung ermöglichen.
Nach alledem ist auf die Frage 2a zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass die Frage, ob die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfüllt ist, konkret zu beurteilen ist, indem für einen bestimmten Arbeitsplatz die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die für die von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar eingestellten Arbeitnehmer gelten, mit denen verglichen werden, die für Leiharbeitnehmer gelten, um so feststellen zu können, ob die in Bezug auf diese wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewährten Ausgleichsvorteile es ermöglichen, die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auszugleichen.
Zur Frage 2b
Mit der Frage 2b möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern verlangt, dass der betreffende Leiharbeitnehmer durch einen unbefristeten Arbeitsvertrag an das Leiharbeitsunternehmen gebunden ist.
Zwar können nach Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie die Mitgliedstaaten nach Anhörung der Sozialpartner die Möglichkeit vorsehen, dass vom Grundsatz der Gleichbehandlung abgewichen wird, wenn Leiharbeitnehmer, die einen unbefristeten Vertrag mit dem Leiharbeitsunternehmen abgeschlossen haben, auch in der Zeit zwischen den Überlassungen bezahlt werden.
Im Unterschied zu dieser Bestimmung sieht Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 jedoch keine spezielle Regelung für Leiharbeitnehmer mit einem unbefristeten Vertrag vor.
Wie der Generalanwalt in Nr. 54 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, liegt der Grund für diesen Unterschied zwischen Art. 5 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 darin, dass Leiharbeitnehmer, die auf der Grundlage eines unbefristeten Arbeitsvertrags eingestellt werden, auch in der Zeit zwischen ihren Überlassungen an entleihende Unternehmen bezahlt werden. Dies rechtfertigt die in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehene Möglichkeit, in Bezug auf diese Arbeitnehmer eine Ungleichbehandlung hinsichtlich des Arbeitsentgelts vorzusehen. Der spezifische Charakter dieser Regelung steht im Widerspruch zum allgemeinen Charakter von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie, der zwar Ungleichbehandlungen in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zulässt, aber gleichwohl dazu verpflichtet, den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern zu achten.
Somit ist festzustellen, dass Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2008/104 selbst den konkreten Ausgleich – d. h. das Arbeitsentgelt für die Zeit zwischen den Überlassungen – festlegt, der Leiharbeitnehmern mit einem unbefristeten Vertrag als Gegenleistung für eine Abweichung vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt gewährt werden muss, während Abs. 3 dieses Artikels es den Sozialpartnern ermöglicht, sowohl die genaue Art der Abweichung vom Gleichbehandlungsgrundsatz als auch den Vorteil, der die Auswirkungen dieser Abweichung ausgleichen soll, autonom auszuhandeln, sofern der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern gewährleistet ist.
Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 erlaubt vorbehaltlich dieses Gesamtschutzes mithin den Abschluss eines vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf alle Leiharbeitnehmer abweichenden Tarifvertrags, ohne danach zu unterscheiden, ob ihr Arbeitsvertrag mit einem Leiharbeitsunternehmen befristet oder unbefristet ist. In einem solchen Fall lässt sich darüber hinaus nicht ausschließen, dass die Entgeltfortzahlung in der Zeit zwischen den Überlassungen – sei es aufgrund eines unbefristeten oder befristeten Vertrags – bei der Beurteilung dieses Gesamtschutzes berücksichtigt werden kann. Allerdings muss den Leiharbeitnehmern mit einem befristeten Vertrag ein erheblicher Vorteil gewährt werden, der den Unterschied des Arbeitsentgelts, den sie während der Überlassung gegenüber einem vergleichbaren Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens hinnehmen müssen, ausgleichen kann.
Nach alledem ist auf die Frage 2b zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern nicht verlangt, dass der betreffende Leiharbeitnehmer durch einen unbefristeten Arbeitsvertrag an das Leiharbeitsunternehmen gebunden ist.
Zur dritten Frage
Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass der nationale Gesetzgeber verpflichtet ist, die Voraussetzungen und Kriterien für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern im Sinne dieser Bestimmung vorzusehen, wenn der betreffende Mitgliedstaat den Sozialpartnern die Möglichkeit einräumt, Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil der Leiharbeitnehmer zulassen.
Nach Art. 288 Abs. 3 AEUV ist eine Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Zwar belässt diese Bestimmung den Mitgliedstaaten die Freiheit bei der Wahl der Mittel und Wege zur Umsetzung der Richtlinie, doch lässt diese Freiheit die Verpflichtung der einzelnen Mitgliedstaaten unberührt, im Rahmen ihrer nationalen Rechtsordnung alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um die vollständige Wirksamkeit der Richtlinie entsprechend ihrer Zielsetzung zu gewährleisten (Urteil vom 17. März 2022, Daimler, C‑232/20, EU:C:2022:196, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Wie bereits in Rn. 36 des vorliegenden Urteils ausgeführt, geht aus dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/104 hervor, dass, um der Vielfalt der Arbeitsmärkte und der Arbeitsbeziehungen auf flexible Weise gerecht zu werden, die Mitgliedstaaten den Sozialpartnern gestatten können, Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen festzulegen, sofern das Gesamtschutzniveau für Leiharbeitnehmer gewahrt bleibt.
Zudem lässt sich dem 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/104 entnehmen, dass diese weder die Autonomie der Sozialpartner beeinträchtigt noch die Beziehungen zwischen den Sozialpartnern beeinträchtigen sollte, einschließlich des Rechts, Tarifverträge gemäß Unionsrecht, nationalem Recht und nationalen Gepflogenheiten bei gleichzeitiger Einhaltung des geltenden Unionsrechts auszuhandeln und zu schließen.
Aus Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 ergibt sich ferner, dass die Mitgliedstaaten, um dem Ziel des Schutzes der Leiharbeitnehmer nachzukommen, die Möglichkeit haben, entweder die hierfür erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen oder sich zu vergewissern, dass die Sozialpartner die erforderlichen Vorschriften im Wege von Vereinbarungen festlegen; dabei sind die Mitgliedstaaten gehalten, die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit sie jederzeit gewährleisten können, dass die Ziele dieser Richtlinie erreicht werden.
Die den Mitgliedstaaten in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 eingeräumte Möglichkeit, es den Sozialpartnern zu gestatten, von dem in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie umgesetzten Grundsatz der Gleichbehandlung abweichende Tarifverträge zu schließen, steht somit im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Mitgliedstaaten die Verwirklichung der sozialpolitischen Ziele, die mit einer in diesem Bereich erlassenen Richtlinie verfolgt werden, in erster Linie den Sozialpartnern überlassen können (Urteil vom 17. März 2022, Daimler, C‑232/20, EU:C:2022:196, Rn. 108 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Diese Möglichkeit befreit die Mitgliedstaaten jedoch nicht von der Verpflichtung, durch geeignete Rechts- und Verwaltungsvorschriften sicherzustellen, dass die Leiharbeitnehmer in vollem Umfang den Schutz in Anspruch nehmen können, den ihnen die Richtlinie 2008/104 gewährt (Urteil vom 17. März 2022, Daimler, C‑232/20, EU:C:2022:196, Rn. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Daher sind die Mitgliedstaaten, wenn sie den Sozialpartnern die Möglichkeit einräumen, Tarifverträge zu schließen, die gemäß Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 Ungleichbehandlungen zum Nachteil der Leiharbeitnehmer zulassen, gleichwohl verpflichtet, den Gesamtschutz dieser Arbeitnehmer zu achten.
In Anbetracht des Ziels von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104, wie es sich aus deren in den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Erwägungsgründen 16 und 19 ergibt, verlangt die Pflicht der Sozialpartner zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern allerdings nicht, dass die Mitgliedstaaten im Einzelnen die Voraussetzungen und Kriterien vorsehen, denen die Tarifverträge entsprechen müssen.
Wie der Generalanwalt in Nr. 65 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, müssen die Sozialpartner jedoch, wenn die nationalen Rechtsvorschriften ihnen die Möglichkeit einräumen, in den Geltungsbereich einer Richtlinie fallende Tarifverträge auszuhandeln und zu schließen, unter Beachtung des Unionsrechts im Allgemeinen und dieser Richtlinie im Besonderen handeln. Daher müssen die Sozialpartner, wenn sie einen in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/104 fallenden Tarifvertrag schließen, diese Richtlinie beachten, indem sie u. a. den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern gemäß Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie achten (vgl. entsprechend Urteil vom 19. September 2018, Bedi, C‑312/17, EU:C:2018:734, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass der nationale Gesetzgeber nicht verpflichtet ist, die Voraussetzungen und Kriterien für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern im Sinne dieser Bestimmung vorzusehen, wenn der betreffende Mitgliedstaat den Sozialpartnern die Möglichkeit einräumt, Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil der Leiharbeitnehmer zulassen.
Zur vierten Frage
Angesichts der Antwort auf die dritte Frage ist die vierte Frage nicht zu beantworten.
Zur fünften Frage
Mit seiner fünften Frage, die für den Fall gestellt worden ist, dass die dritte Frage verneint wird, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass Tarifverträge, die nach dieser Bestimmung Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zulassen, einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen können, um zu überprüfen, ob die Sozialpartner ihrer Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern nachkommen.
Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 28 der Charta der Grundrechte die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten u. a. das Recht haben, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen. Zum anderen stellt Art. 152 Abs. 1 AEUV klar, dass die Union „die Rolle der Sozialpartner auf Ebene der Union unter Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme [anerkennt und fördert]“ und dass sie „den sozialen Dialog [fördert] und dabei die Autonomie der Sozialpartner [achtet]“, wobei im Übrigen auch im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/104 auf die Bedeutung dieser Autonomie hingewiesen wird.
Diese Autonomie bedingt, dass die Sozialpartner während der Phase, in der sie – was ausschließlich ihre Sache ist – eine Vereinbarung aushandeln, frei einen Dialog miteinander führen und handeln können, ohne jegliche Anordnungen oder Weisungen von Dritten, insbesondere der Mitgliedstaaten oder der Unionsorgane (Urteil vom 2. September 2021, EPSU/Kommission, C‑928/19 P, EU:C:2021:656, Rn. 61).
Es ist somit darauf hinzuweisen, dass die Sozialpartner nicht nur bei der Entscheidung, welches konkrete Ziel von mehreren im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik sie verfolgen wollen, sondern auch bei der Festlegung der Maßnahmen zu seiner Erreichung über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügen (Urteil vom 19. September 2018, Bedi, C‑312/17, EU:C:2018:734, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Soweit das in Art. 28 der Charta der Grundrechte proklamierte Recht auf Kollektivverhandlungen Bestandteil des Unionsrechts ist, muss es jedoch im Rahmen der Anwendung des Unionsrechts im Einklang mit diesem ausgeübt werden (Urteil vom 19. September 2018, Bedi, C‑312/17, EU:C:2018:734, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Auch wenn die Sozialpartner somit, wie in Rn. 73 des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Rahmen der Aushandlung und des Abschlusses von Tarifverträgen über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügen, wird dieser folglich durch die Pflicht begrenzt, die Wahrung des Unionsrechts sicherzustellen.
Daraus folgt, dass – wie in Beantwortung der dritten Frage festgestellt worden ist – die Bestimmungen der Richtlinie 2008/104 den Mitgliedstaaten zwar nicht den Erlass einer bestimmten Regelung, mit der der Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern im Sinne von Art. 5 Abs. 3 dieser Richtlinie gewährleistet werden soll, vorschreiben; die Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Gerichte, müssen jedoch dafür sorgen, dass Tarifverträge, die Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zulassen, insbesondere den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern gemäß Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 achten.
Um die volle Wirksamkeit der Richtlinie 2008/104 sicherzustellen, obliegt es, wie der Generalanwalt in Nr. 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dem vorlegenden Gericht, zu prüfen, ob die Tarifverträge, die nach Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen, den Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern angemessen achten, indem sie ihnen im Gegenzug für jede Abweichung von diesem Gleichbehandlungsgrundsatz Ausgleichsvorteile gewähren.
Trotz des Beurteilungsspielraums, über den die Sozialpartner bei der Aushandlung und dem Abschluss von Tarifverträgen verfügen, ist das nationale Gericht verpflichtet, alles in seiner Zuständigkeit Liegende zu tun, um die Vereinbarkeit von Tarifverträgen mit den sich aus Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 ergebenden Anforderungen sicherzustellen.
Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass Tarifverträge, die nach dieser Bestimmung Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zulassen, einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen können müssen, um zu überprüfen, ob die Sozialpartner ihrer Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes dieser Arbeitnehmer nachkommen.
Kosten
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit
ist dahin auszulegen, dass
diese Bestimmung durch ihre Bezugnahme auf den Begriff „Gesamtschutz von Leiharbeitnehmern“ nicht erfordert, ein den Leiharbeitnehmern eigenes Schutzniveau zu berücksichtigen, das über dasjenige hinausgeht, das durch nationales Recht und Unionsrecht betreffend die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die Arbeitnehmer im Allgemeinen festgelegt ist. Lassen die Sozialpartner jedoch durch einen Tarifvertrag Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zu, muss dieser Tarifvertrag, um den Gesamtschutz der betroffenen Leiharbeitnehmer zu achten, ihnen Vorteile in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewähren, die geeignet sind, ihre Ungleichbehandlung auszugleichen.
2. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104
ist dahin auszulegen, dass
die Frage, ob die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern erfüllt ist, konkret zu beurteilen ist, indem für einen bestimmten Arbeitsplatz die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die für die von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar eingestellten Arbeitnehmer gelten, mit denen verglichen werden, die für Leiharbeitnehmer gelten, um so feststellen zu können, ob die in Bezug auf diese wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gewährten Ausgleichsvorteile es ermöglichen, die Auswirkungen der Ungleichbehandlung auszugleichen.
3. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104
ist dahin auszulegen, dass
die Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern nicht verlangt, dass der betreffende Leiharbeitnehmer durch einen unbefristeten Arbeitsvertrag an das Leiharbeitsunternehmen gebunden ist.
4. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104
ist dahin auszulegen, dass
der nationale Gesetzgeber nicht verpflichtet ist, die Voraussetzungen und Kriterien für die Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmern im Sinne dieser Bestimmung vorzusehen, wenn der betreffende Mitgliedstaat den Sozialpartnern die Möglichkeit einräumt, Tarifverträge aufrechtzuerhalten oder zu schließen, die Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil der Leiharbeitnehmer zulassen.
5. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2008/104
ist dahin auszulegen, dass
Tarifverträge, die nach dieser Bestimmung Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zum Nachteil von Leiharbeitnehmern zulassen, einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen können müssen, um zu überprüfen, ob die S