Europäischer Gerichtshof

Urteil vom - Az: C-120/21

Urlaubsanspruch kann nicht ohne Hinweis nach drei Jahren verjähren

Die Klägerin verlangte vom früheren Arbeitgeber die Abgeltung von Urlaubstagen aus dem Jahr 2017 und den Vorjahren, die sie aufgrund des hohen Arbeitsaufwands nicht wahrnehmen konnte. Der beklagte Arbeitgeber sei seinen Mitwirkungsobliegenheiten hinsichtlich der Inanspruchnahme von Urlaub nicht nachgekommen, sodass der Urlaub nicht verfallen konnte – so die Klägerin. Nach nationalem Recht könnte der Anspruch jedoch nach drei Jahren Frist verjähren. Das Bundesarbeitsgericht legte den Fall dem EuGH vor und möchte nun wissen, ob die Anwendung nationaler Verjährungsbestimmungen auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist.
Zu dieser Frage hat nun der EuGH-Generalanwalt vorgetragen, dass der Anspruch auf Urlaub zwar den Verjährungsfristen unterliegen könne, allerdings sei hierzu die Mitwirkung des Arbeitgebers erforderlich. Daher könne die Verjährungsfrist erst dann zu laufen beginnen, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten hinsichtlich der Inanspruchnahme von Urlaub nachgekommen ist und der Arbeitnehmer tatsächlich in Kenntnis gesetzt wurde. Eine bloße Kenntnis des Arbeitnehmers vom Bestehen seines Urlaubsanspruchs aufgrund des Arbeitsvertrages oder kraft Gesetzes reiche nicht aus. Gerade der Arbeitnehmer könne aufgrund seiner schwächeren Position innerhalb des Arbeitsvertrags davon abgeschreckt sein, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen. Aus diesem Grund obliege es dem Arbeitgeber, den Arbeitnehmer – etwa durch eine angemessene Aufklärung – tatsächlich in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub rechtzeitig wahrzunehmen. Das Urteil des Gerichtshofs zu dieser Frage steht allerdings noch aus.
(Redaktionelle Zusammenfassung)

I.      Einleitung

Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen bittet das Bundesarbeitsgericht (Deutschland) den Gerichtshof um Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung(2) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(3).

Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TO und LB über die Abgeltung bezahlten Jahresurlaubs. LB hat sich auf die Verjährung des von TO geltend gemachten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub berufen.

Mit der vom vorlegenden Gericht gestellten Frage soll geklärt werden, ob die Anwendung nationaler Verjährungsbestimmungen auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn der Arbeitgeber den vom Gerichtshof in seinen Urteilen vom 6. November 2018, Kreuziger(4) und Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften(5), entwickelten Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten zur Inanspruchnahme des Urlaubs gegenüber dem Arbeitnehmer nicht nachgekommen ist.

In diesen Urteilen hat der Gerichtshof nämlich entschieden, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer dazu anhalten muss, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen, und dass er den Arbeitnehmer über das mögliche Erlöschen des Urlaubsanspruchs informieren muss. Kommt der Arbeitgeber diesen Obliegenheiten nicht nach, ist das Erlöschen des Urlaubsanspruchs am Ende des Bezugszeitraums oder eines im nationalen Recht vorgesehenen Übertragungszeitraums ausgeschlossen.

Der Gerichtshof wird im Rahmen der hier zu prüfenden Rechtssache zu entscheiden haben, ob seine Ausführungen zum Erlöschen des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub auch für die Anwendung einer regelmäßigen Verjährungsfrist auf diesen Anspruch gelten. Genauer gesagt geht es um die Frage, ob der Lauf der Verjährungsfrist unabhängig davon, ob der Arbeitgeber den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaub zu nehmen, beginnen und enden kann.

In den folgenden Ausführungen werde ich die Gründe darlegen, aus denen meiner Ansicht nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in Bezug auf die Urlaubsnahme durch den Arbeitnehmer nicht nachgekommen ist, der für einen Bezugszeitraum erworbene Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sowie der damit korrelierende Anspruch auf finanzielle Vergütung für bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub einer dreijährigen Verjährungsfrist unterliegt, deren Lauf mit Ende dieses Bezugszeitraums beginnt.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

7.        Art. 7 („Jahresurlaub“) der Richtlinie 2003/88 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2)      Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

B.      Nationales Recht

§ 7 („Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs“) des Bundesurlaubsgesetzes(6) vom 8. Januar 1963 in der auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbaren Fassung vom 7. Mai 2002(7) bestimmt:

„…

(3) Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entstehender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalenderjahr zu übertragen.

(4) Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.“

§ 194 („Gegenstand der Verjährung“) des Bürgerlichen Gesetzbuchs (im Folgenden: BGB), das auf das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens anwendbar ist, sieht vor:

„(1) Das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (Anspruch), unterliegt der Verjährung.

…“

§ 195 BGB („Regelmäßige Verjährungsfrist“) lautet:

„Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.“

In § 199 BGB („Beginn der regelmäßigen Verjährungsfrist und Verjährungshöchstfristen“) heißt es:

„(1) Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem

1.      der Anspruch entstanden ist und

2.      der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.

4.      Andere Ansprüche als die nach den Absätzen 2 bis 3a verjähren ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an.

…“

 § 204 BGB („Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung“) sieht vor:

„(1) Die Verjährung wird gehemmt durch

1.      die Erhebung der Klage auf Leistung oder auf Feststellung des Anspruchs …

…“

III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

TO war vom 1. November 1996 bis zum 31. Juli 2017 bei LB als Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin beschäftigt. Sie hatte im Kalenderjahr Anspruch auf 24 Arbeitstage Erholungsurlaub. Mit Schreiben vom 1. März 2012 bescheinigte LB TO, ihr Resturlaubsanspruch von 76 Tagen aus dem Kalenderjahr 2011 sowie den Vorjahren verfalle am 31. März 2012 nicht, weil sie den Urlaub wegen des hohen Arbeitsaufwands in seiner Kanzlei nicht habe antreten können. In den Jahren 2012 bis 2017 gewährte LB TO insgesamt 95 Urlaubstage. Ihren gesetzlichen Mindesturlaub nahm TO nicht vollständig in Anspruch. LB hat TO weder aufgefordert, weiteren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen könne.

Mit einer am 6. Februar 2018 beim Arbeitsgericht (Deutschland) erhobenen Klage verlangte TO die Abgeltung von 101 Tagen bezahlten Jahresurlaubs aus dem Jahr 2017 und den Vorjahren, die sie vor der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses nicht genommen habe. LB vertrat die Ansicht, der in Rede stehende Urlaub sei verfallen. Er habe seine Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht kennen und befolgen können, weil sich die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Entscheidungen vom 19. Februar 2019 geändert habe. Zudem sei er nicht zur Urlaubsabgeltung verpflichtet, weil die Urlaubsansprüche, deren Abgeltung TO verlangen könne, verjährt seien.

Das Arbeitsgericht verurteilte LB zur Abgeltung des restlichen Urlaubs aus dem Jahr 2017. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Das Landesarbeitsgericht (Deutschland) verurteilte LB auf die Berufung von TO dazu, ihr 76 Urlaubstage aus den Jahren 2013 bis 2016 mit 17 376,64 Euro brutto abzugelten. Es stellte fest, der Urlaub von TO habe unter Beachtung unionsrechtlicher Vorgaben weder nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen noch nach den allgemeinen Verjährungsbestimmungen der §§ 194 ff. BGB verjähren können, weil LB TO nicht in die Lage versetzt habe, den Urlaub zu nehmen.

LB legte Revision beim vorlegenden Gericht ein.

Auf der Grundlage der aus den Urteilen Kreuziger und Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften hervorgegangenen Rechtsprechung weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Anspruch von TO auf bezahlten Jahresurlaub für die Jahre 2013 bis 2016 nicht gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen sei, da LB TO nicht dazu aufgefordert habe, ihren Urlaub zu nehmen und ihr nicht klar und rechtzeitig mitgeteilt habe, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfalle, wenn er von ihr nicht genommen werde.

Wie der Gerichtshof geht das vorlegende Gericht davon aus, dass ein Erlöschen von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub in Fällen, in denen der Arbeitnehmer den Urlaub nicht hat nehmen können, nur ausnahmsweise in Betracht kommt, und zwar dann, wenn besondere Umstände vorliegen, die den Verfall des Urlaubs rechtfertigen. Das vorlegende Gericht stellt jedoch fest, dass LB TO durch Erfüllung seiner Aufforderungs- und Hinweispflichten in die Lage hätte versetzen können, den Urlaub aus den Jahren 2013 bis 2016 zu nehmen.

LB hat die Einrede der Verjährung nach den §§ 194 und 195 BGB erhoben. Aus diesen Vorschriften geht hervor, dass Ansprüche eines Gläubigers drei Jahre nach Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, verjähren. Daher hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG erlöschen konnten, verjährt sind.

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass, soweit TO die Abgeltung von nicht genommenem Urlaub aus den Jahren 2013 und 2014 verlange, ihr Antrag nicht begründet wäre, wenn § 7 BUrlG, ausgelegt im Licht des Unionsrechts, der Verjährung von Urlaubsansprüchen für diese Jahre nicht entgegenstände und es zuließe, auch bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers für den Beginn der Verjährungsfrist auf das Urlaubsjahr abzustellen, in dem der Anspruch entstanden sei.

Das vorlegende Gericht möchte somit wissen, in welchem Verhältnis in Anbetracht der aus den Urteilen Kreuziger und Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften hervorgegangenen Rechtsprechung die allgemeinen Verjährungsbestimmungen der §§ 194 ff. BGB zu § 7 BUrlG stehen. In Ansehung dieser Rechtsprechung könnte in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nämlich bei Anwendung der nationalen Verjährungsvorschriften auf den Urlaubsanspruch ein Verstoß gegen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta gegeben sein.

Insbesondere sei zu klären, ob aus dieser Rechtsprechung abzuleiten sei, dass diese Bestimmungen es ausschlössen, vom Arbeitnehmer zur Vermeidung der Verjährung des Urlaubsanspruchs verjährungshemmende Maßnahmen im Sinne von § 204 Abs. 1 BGB zu verlangen, wenn der Arbeitgeber ihn nicht in die Lage versetzt habe, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen.

Das vorlegende Gericht hegt Zweifel ob der zutreffenden Auslegung des Unionsrechts, da der Gerichtshof gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten die Verjährbarkeit von Ansprüchen bereits anerkannt habe, sofern der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz beachtet würden.

Was den Effektivitätsgrundsatz betreffe, seien die der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmenden Hinweise weiter erläuterungsbedürftig, was ihre Anwendung auf die Geltendmachung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub angehe. Dabei geht es dem vorlegenden Gericht insbesondere um die Frage des Beginns des Laufs der Verjährungsfrist.

Einer Ansicht zufolge könnte die Anwendung der nationalen Verjährungsvorschriften auf den Urlaubsanspruch als mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar angesehen werden. Mit der dreijährigen Verjährungsfrist habe der nationale Gesetzgeber einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Arbeitgebers als Schuldner des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub und denen des Arbeitnehmers als Gläubiger dieses Anspruchs geschaffen. Da diese Frist nach § 195 und § 199 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 BGB erst mit Kenntnis oder Erkennbarkeit der Forderung zu laufen beginne, sei der Arbeitnehmer, dem der Urlaubsanspruch aus seinem Arbeitsvertrag, aus dem Gesetz oder aus Tarifverträgen regelmäßig bekannt sei, in der Lage, diesen in einem ausreichend langen Zeitraum verjährungshemmend einzuklagen.

Einem anderen Standpunkt zufolge ergäben sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs jedoch auch Anhaltspunkte dafür, dass die Anwendung nationaler Verjährungsbestimmungen auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub mit dem Effektivitätsgrundsatz nicht vereinbar sei, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen sei.

Der Gerichtshof habe nämlich in anderem Zusammenhang bereits entschieden, dass die Anwendung einer Verjährungsfrist geeignet sei, die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte übermäßig zu erschweren und folglich den Effektivitätsgrundsatz in Verbindung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit zu verletzen, wenn die Verjährung zu einem Zeitpunkt zu laufen beginne, zu dem der Anspruchsteller den Umfang seiner Rechte aus dem Unionsrecht nicht gekannt habe oder nicht habe richtig erfassen können, weil er nicht über die erforderlichen Informationen verfügt habe(8).

Somit stelle sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta es geböten, für den Beginn der Verjährungsfrist nicht nur die Kenntnis der Entstehung und des Umfangs des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu fordern, sondern auch die Information über seine Befristung und seinen möglichen Verfall, die der Arbeitgeber in Erfüllung seiner Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten zu vermitteln habe.

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesarbeitsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stehen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Anwendung einer nationalen Regelung wie § 194 Abs. 1 in Verbindung mit § 195 BGB entgegen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub einer regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren unterliegt, deren Lauf unter den in § 199 Abs. 1 BGB genannten Voraussetzungen mit dem Schluss des Urlaubsjahres beginnt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?

Die deutsche Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Am 24. März 2022 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden.

 

IV.    Würdigung

Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der für einen Bezugszeitraum erworbene Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sowie der damit korrelierende Anspruch auf finanzielle Vergütung für bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub einer dreijährigen Verjährungsfrist unterliegt, deren Lauf, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in Bezug auf die Urlaubsnahme durch den Arbeitnehmer nicht nachgekommen ist, mit dem Schluss dieses Bezugszeitraums beginnt.

Zur Beantwortung dieser Frage ist hervorzuheben, dass es, wie sich aus dem Wortlaut von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, Sache der Mitgliedstaaten ist, in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen und dabei die konkreten Umstände zu bezeichnen, unter denen die Arbeitnehmer von diesem Anspruch Gebrauch machen können(9).

Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass „Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 grundsätzlich einer nationalen Regelung, die für die Wahrnehmung des mit dieser Richtlinie ausdrücklich verliehenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub Modalitäten vorsieht, die sogar den Verlust dieses Anspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums umfassen, nicht entgegensteht, allerdings unter der Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit hatte, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch wahrzunehmen“(10).

Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass eine nationale Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG in den Bereich der Modalitäten für die Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 in seiner Auslegung durch den Gerichtshof fällt(11). Eine Regelung solcher Art gehört zu den auf die Festlegung des Urlaubs der Arbeitnehmer anwendbaren Bestimmungen und Verfahren des nationalen Rechts, die zum Ziel haben, den verschiedenen widerstreitenden Interessen Rechnung zu tragen(12).

Dem Gerichtshof zufolge ist jedoch stets „dafür Sorge zu tragen, dass die Anwendung solcher nationalen Bestimmungen nicht zum Erlöschen der vom Arbeitnehmer erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub führen kann, wenn es ihm tatsächlich nicht möglich war, diese Ansprüche wahrzunehmen“(13). Deshalb „werden mit einem solchen automatischen Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub, der keine vorherige Prüfung voraussetzt, ob der Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen, die … Grenzen verkannt, die von den Mitgliedstaaten zwingend einzuhalten sind, wenn sie die Modalitäten für die Ausübung dieses Anspruchs im Einzelnen festlegen“(14). Denn „[d]as Erlöschen des von einem Arbeitnehmer erworbenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub oder des im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses korrelierenden Anspruchs auf Zahlung einer Vergütung für nicht genommenen Urlaub, ohne dass der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit gehabt hätte, den Anspruch auszuüben, würde … das Recht auf bezahlten Jahresurlaub in seinem Wesensgehalt antasten“(15).

Aus dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt, dass beim Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub der Grundsatz gilt, dass dieser Anspruch nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlöschen kann, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen(16).

Soweit die Verjährungsvorschriften der §§ 194 ff. BGB auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub anwendbar sind, handelt es sich dabei wie bei § 7 Abs. 3 BUrlG um Modalitäten für die Wahrnehmung dieses Anspruchs. Sie sind daher ebenfalls den Grenzen unterworfen, die von den Mitgliedstaaten einzuhalten sind, um den Wesensgehalt dieses Anspruchs nicht anzutasten.

Hierbei geht es darum, im spezifischen Kontext des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub der allgemeinen Regel, wonach die Mitgliedstaaten im Rahmen des Unionsrechts über Verfahrensautonomie verfügen, auf andere Weise Ausdruck zu verleihen. So ergibt sich zwar aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass mangels spezifischer Vorschriften des Unionsrechts in diesem Bereich gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten die Modalitäten der Verwirklichung dieses Anspruchs durch die innerstaatlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu regeln sind. Diese Modalitäten dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz)(17).

In der vorliegenden Rechtssache geht es nur um den Effektivitätsgrundsatz(18). In Bezug auf diesen hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens(19).

Außerdem hat der Gerichtshof klargestellt, dass die mitgliedstaatliche Verpflichtung, die Effektivität der unionsrechtlichen Ansprüche Einzelner sicherzustellen, impliziert, dass auch ein – im Übrigen in Art. 47 der Charta verankertes – Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet sein muss; dieser erstreckt sich u. a. auf die Festlegung der Verfahrensmodalitäten für Rechtsbehelfe, die auf unionsrechtliche Ansprüche gestützt sind(20).

Zur Prüfung der Merkmale einer Verjährungsfrist hat der Gerichtshof klargestellt, dass diese Prüfung die Länge dieser Frist und die Modalitäten ihrer Anwendung, einschließlich der Modalität, gemäß der diese Frist in Lauf gesetzt wird, umfassen muss(21).

Ob und inwieweit die Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verjährungsfrist auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub mit dem Unionsrecht vereinbar ist, ist anhand dieses Prüfungsschemas zu beurteilen.

Was als Erstes die Länge der Verjährungsfrist betrifft, so hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass angemessene Ausschlussfristen, die im Interesse der Rechtssicherheit festgesetzt werden, die Ausübung der unionsrechtlichen Ansprüche nicht praktisch unmöglich zu machen oder sie übermäßig zu erschweren vermögen, wenn diese Fristen faktisch ausreichend sind, um es den Betroffenen zu ermöglichen, einen wirksamen Rechtsbehelf vorzubereiten und einzureichen(22). Denn die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit ist mit dem Unionsrecht vereinbar(23).

Im vorliegenden Fall beträgt die Verjährungsfrist nach § 195 BGB, auf den sich LB im Ausgangsverfahren beruft, um den Ansprüchen von TO entgegenzutreten, drei Jahre. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass eine solche Frist angemessen und mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar ist, wenn sie im Voraus festgelegt und bekannt ist(24).

Als Zweites ist hinsichtlich des Beginns der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verjährungsfrist zu prüfen, ob sie einen Arbeitnehmer daran hindern kann, die Ansprüche aus der Richtlinie 2003/88 während dieser Frist geltend zu machen.

Ich weise darauf hin, dass nach § 199 Abs. 1 BGB die regelmäßige Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste. Diese Bestimmung bedeutet, dass die dreijährige Verjährungsfrist grundsätzlich mit dem Schluss des Bezugsjahres beginnt, in dem der Arbeitnehmer seine Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub erworben hat. Der so festgelegte Beginn dieser Verjährungsfrist beruht darauf, dass dem Arbeitnehmer der Urlaubsanspruch aus seinem Arbeitsvertrag, aus dem Gesetz oder aus Tarifverträgen regelmäßig bekannt ist und er in der Lage ist, diesen in einem ausreichend langen Zeitraum verjährungshemmend einzuklagen.

Ich bin jedoch mit der Kommission der Ansicht, dass der Lauf einer Verjährungsfrist wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht allein aufgrund einer unterstellten theoretischen Kenntnis des Arbeitnehmers vom Bestehen seines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ausgelöst werden kann. Eine solche Auffassung ist meines Erachtens mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar, da sie die nicht unerhebliche Gefahr birgt, dass der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht innerhalb der in § 195 BGB festgelegten Frist geltend machen kann. Der Arbeitnehmer kann seinen Urlaubsanspruch nämlich nur dann tatsächlich verwirklichen, wenn der Arbeitgeber ihn zuvor angemessen und vollständig darüber informiert hat, wieviel Urlaub ihm zur Verfügung steht. Bei mehrfacher Übertragung von Urlaubsansprüchen ist diese Information umso notwendiger.

Daher ist weder die im deutschen Recht vorgesehene Verjährungsfrist noch ihre Länge als solche im Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz problematisch, sondern der Beginn des Laufs der Frist: Für diesen muss meines Erachtens auf den Ablauf des Jahres abgestellt werden, in dem der Arbeitgeber seiner Hinweisobliegenheit nachgekommen ist, denn zu diesem Zeitpunkt ist davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer von seinem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub im Sinne von § 199 Abs. 1 BGB „Kenntnis erlangt“ hat. Daraus ergibt sich, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verjährungsfrist nicht zu laufen beginnen kann, solange der Arbeitgeber seiner Hinweisobliegenheit nicht nachgekommen ist. So verstanden könnte das deutsche Recht meines Erachtens unionsrechtskonform ausgelegt werden.

Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es dem Arbeitgeber obliegt, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen(25). Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass „der Arbeitgeber in Anbetracht des zwingenden Charakters des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub und angesichts des Erfordernisses, die praktische Wirksamkeit von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 zu gewährleisten, u. a. verpflichtet [ist], konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun, und ihm, damit sichergestellt ist, dass der Urlaub ihm noch die Erholung und Entspannung bieten kann, zu denen er beitragen soll, klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugszeitraums oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird“(26).

Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass „die Beweislast … insoweit der Arbeitgeber [trägt]. Kann er nicht nachweisen, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, verstießen das Erlöschen des Urlaubsanspruchs am Ende des Bezugs- oder zulässigen Übertragungszeitraums und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – das entsprechende Ausbleiben der Zahlung einer finanziellen Vergütung für den nicht genommenen Jahresurlaub gegen Art. 7 Abs. 1 und gegen Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88“(27).

Der deutschen Regierung zufolge unterscheiden sich die Institute des Verfalls und der Verjährung jedoch grundlegend. Die Verjährung diene nicht ausschließlich den Interessen des Schuldners, sondern sei ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit: Sie solle Rechtsfrieden und Rechtssicherheit schaffen. Diese Zwecke könne die Verjährung nur erfüllen, wenn sie der Geltendmachung von Ansprüchen eine zeitliche Grenze setze. Würde man die Verjährung dagegen unter bestimmten Umständen für nicht anwendbar halten, könnten im Laufe eines Arbeitsverhältnisses entstandene Urlaubsansprüche unbefristet und in beliebiger Höhe angesammelt werden, wodurch der Erholungszweck des Urlaubs konterkariert würde. Die deutsche Regierung hält die Anwendung der Verjährungsvorschriften auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub daher für unionsrechtskonform, und zwar auch dann, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist.

Ich bin anderer Ansicht als die deutsche Regierung. Da der Ablauf einer Verjährungsfrist wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden dazu führen kann, dass der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub verliert, sind auf eine solche Frist meines Erachtens die Ausführungen des Gerichtshofs in seinem Urteil Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften zu einer nationalen Vorschrift, nämlich § 7 Abs. 3 BUrlG, entsprechend anzuwenden – es ging dabei um das Erlöschen des vom Arbeitnehmer erworbenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub bzw. des damit korrelierenden Abgeltungsanspruchs bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Daraus folgt, dass eine Verjährungsfrist wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nur dann herangezogen werden kann, wenn vorab überprüft worden ist, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Im Übrigen kann, wie der Gerichtshof für die Verbraucher entschieden hat, eine Verjährungsfrist nur dann mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar sein, wenn der Verbraucher die Möglichkeit hatte, von seinen Rechten Kenntnis zu nehmen, bevor diese Frist zu laufen beginnt oder abgelaufen ist(28).

Ich weise hierbei darauf hin, dass die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers darin begründet liegen, dass der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsverhältnisses anzusehen ist und als solche davon abgeschreckt werden kann, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber ausdrücklich geltend zu machen(29). Dem Gerichtshof zufolge „ist eine Situation zu vermeiden, in der die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, vollständig auf den Arbeitnehmer verlagert würde, während der Arbeitgeber damit die Möglichkeit erhielte, sich unter Berufung auf den fehlenden Urlaubsantrag des Arbeitnehmers seiner eigenen Pflichten zu entziehen“(30).

Diese Gedankengänge beruhen darauf, dass der Arbeitnehmer, wenn er für seine Urlaubsnahme nicht aktiv geworden ist, den von ihm erworbenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht verlieren kann, ohne dass zuvor überprüft wird, dass er vom Arbeitgeber tatsächlich in die Lage versetzt wurde, den Urlaub zu nehmen. Mit einem solchen Verlust, der keine vorherige Prüfung voraussetzt, ob der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten zur Urlaubsnahme tatsächlich nachgekommen ist, würden – auch in Bezug auf nationale Verjährungsvorschriften – die Grenzen verkannt, die von den Mitgliedstaaten zwingend einzuhalten sind, wenn sie die Modalitäten für die Wahrnehmung dieses Anspruchs im Einzelnen festlegen(31).

Diesem Ansatz folgend bin ich der Ansicht, dass es Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta nicht erlauben, die Wahrung des vom Arbeitnehmer erworbenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub davon abhängig zu machen, dass der Arbeitnehmer einen nach § 204 BGB verjährungshemmenden Rechtsbehelf einlegt.

Meines Erachtens sind letztlich die Grundsätze, die der Gerichtshof in seinen Urteilen Kreuziger und Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften für das Erlöschen des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub entwickelt hat, auf die Verjährung dieses Anspruchs übertragbar. Um zu gewährleisten, dass der Arbeitnehmer im Interesse eines wirksamen Schutzes seiner Sicherheit und seiner Gesundheit über eine tatsächliche Ruhezeit verfügen kann(32), ist daher bei jeder Umsetzung nationaler Vorschriften, die zum Erlöschen des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub führen, einschließlich der Anspruchsverjährung, vorab zu überprüfen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen.

Jede andere Auslegung hätte zur Folge, dass ein Mitgliedstaat den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers, der nicht in die Lage versetzt wurde, ihn wahrzunehmen, erneut zeitlich begrenzen könnte – diesmal allerdings über allgemeine Verjährungsvorschriften. Dies würde meines Erachtens den Ausführungen des Gerichtshofs in den Urteilen Kreuziger und Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften zuwiderlaufen.

Hinzufügen möchte ich, dass der von mir befürwortete Ansatz der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs entspricht, wonach der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht eng ausgelegt werden darf(33). Daher müssen „Abweichungen von der mit der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Unionsregelung über die Arbeitszeitgestaltung … so ausgelegt werden, dass ihr Anwendungsbereich auf das zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie ermöglichen, unbedingt Erforderliche begrenzt wird“(34).

Vorliegend erscheinen mir die Interessen des Arbeitgebers, der seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten zur Urlaubsnahme nicht nachgekommen ist, nicht schützenswerter als die des Arbeitnehmers. Der Arbeitgeber sollte sich seinen Verpflichtungen nicht entziehen können und auch keinen Nutzen aus seinem eigenen Fehlverhalten ziehen können, indem er geltend macht, eine nationale Verjährungsvorschrift diene der Rechtssicherheit.

Dem Gerichtshof zufolge hat nämlich „– anders als im Fall des Ansammelns von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub durch einen Arbeitnehmer, der aus Krankheitsgründen daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen – der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen“(35). Hinzu kommt, dass der Gerichtshof bereits Folgendes entschieden hat: „Ließe man unter diesen Umständen ein Erlöschen der vom Arbeitnehmer erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zu, würde man damit … im Ergebnis ein Verhalten bestätigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führt und dem eigentlichen Zweck der [Richtlinie 2003/88], die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderläuft“(36).

Aus alledem ergibt sich, dass meines Erachtens, wenn der Arbeitgeber nicht nachweist, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen, dem Arbeitnehmer dieser erworbene Anspruch weder durch Erlöschen noch durch Verjährung entzogen werden kann.

 

V.      Ergebnis

Nach alledem schlage ich vor, die Vorlagefrage des Bundesarbeitsgerichts (Deutschland) wie folgt zu beantworten:

Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der für einen Bezugszeitraum erworbene Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sowie der damit korrelierende Anspruch auf finanzielle Vergütung für bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub einer dreijährigen Verjährungsfrist unterliegt, deren Lauf, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in Bezug auf die Urlaubsnahme durch den Arbeitnehmer nicht nachgekommen ist, mit dem Schluss dieses Bezugszeitraums beginnt.



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