Europäischer Gerichtshof

Urteil vom - Az: C-176/12

Zur Wirkung von EU-Grundrechten zwischen Privaten (Art. 27 Eu-GRC)

(1.) Der Einzelne kann sich in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat.
Jedoch kann nach ständiger Rechtsprechung sogar eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung finden.

(2.) Ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit zwischen Privatpersonen anhängig ist, muss bei der Anwendung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die zur Umsetzung der in einer Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen erlassen worden sind, das gesamte nationale Recht berücksichtigen und es so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie auslegen, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar ist.
Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts findet jedoch in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ihre Schranken und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen.

(3.) Nach ständiger Rechtsprechung finden die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung (hier: Art. 27 Eu-GRC).
Zu prüfen ist, ob der Sachverhalt mit dem der Rechtssache Kücükdeveci vergleichbar ist. Das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters (Art. 21 Abs. 1 Eu-GRC), um das es in der Rechtssache ging, verleiht für sich allein dem Einzelnen ein subjektives Recht, das er als solches geltend machen kann.

(4.) Aus dem Wortlaut von Art. 27 der Charta geht klar hervor, dass er, damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss.
Das in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2002/14 enthaltene und an die Mitgliedstaaten gerichtete Verbot, bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern, die ursprünglich zu dem Kreis der bei dieser Berechnung zu berücksichtigenden Personen gehörte, auszuschließen, lässt sich als unmittelbar anwendbare Rechtsnorm weder aus dem Wortlaut des Art. 27 der Charta noch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel herleiten.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich die Umstände des Ausgangsverfahrens von denen unterscheiden, die zum Urteil Kücükdeveci geführt haben.
Demnach kann Art. 27 der Charta als solcher in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht geltend gemacht werden, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass die mit der Richtlinie 2002/14 nicht konforme nationale Bestimmung unangewendet zu lassen ist.
(Redaktionelle Orientierungssätze)

Tenor

Art. 27 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist für sich genommen oder in Verbindung mit den Bestimmungen der Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft dahin auszulegen, dass er, wenn eine nationale Bestimmung zur Umsetzung dieser Richtlinie, wie Art. L. 1111-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs, mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht geltend gemacht werden kann, um diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen.

 

Tatbestand

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft (ABl. L 80, S. 29).

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Association de médiation sociale (im Folgenden: AMS) einerseits und der Union locale des syndicats CGT, Herrn Laboubi, der Union départementale CGT des Bouches-du-Rhône und der Confédération générale du travail (CGT) andererseits über die Einsetzung von Personalvertretungsorganen bei der AMS durch den zuständigen Gewerkschaftsortsverband.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Art. 27 der Charta lautet:

 „Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ihre Vertreter muss auf den geeigneten Ebenen eine rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind.“

Art. 1 („Gegenstand und Grundsätze“) der Richtlinie 2002/14 bestimmt:

 „(1)      Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung eines allgemeinen Rahmens mit Mindestvorschriften für das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer von in der Gemeinschaft ansässigen Unternehmen oder Betrieben.

 (2)      Die Modalitäten der Unterrichtung und Anhörung werden gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und den in den einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Praktiken im Bereich der Arbeitsbeziehungen so gestaltet und angewandt, dass ihre Wirksamkeit gewährleistet ist.

...“

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie lautet:

 „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

...

d)      ‚Arbeitnehmer‘ eine Person, die in dem betreffenden Mitgliedstaat als Arbeitnehmer aufgrund des einzelstaatlichen Arbeitsrechts und entsprechend den einzelstaatlichen Gepflogenheiten geschützt ist.

...“

Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor:

 

„Diese Richtlinie gilt je nach Entscheidung der Mitgliedstaaten:

a)      für Unternehmen mit mindestens 50 Arbeitnehmern in einem Mitgliedstaat oder

b)      für Betriebe mit mindestens 20 Arbeitnehmern in einem Mitgliedstaat.

Die Mitgliedstaaten bestimmen, nach welcher Methode die Schwellenwerte für die Beschäftigtenzahl errechnet werden.“

Art. 4 („Modalitäten der Unterrichtung und Anhörung“) der Richtlinie 2002/14 sieht in Abs. 1 vor:

 „Im Einklang mit den in Artikel 1 dargelegten Grundsätzen und unbeschadet etwaiger geltender einzelstaatlicher Bestimmungen und/oder Gepflogenheiten, die für die Arbeitnehmer günstiger sind, bestimmen die Mitgliedstaaten entsprechend diesem Artikel im Einzelnen, wie das Recht auf Unterrichtung und Anhörung auf der geeigneten Ebene wahrgenommen wird.“

Art. 11 der Richtlinie 2002/14 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen müssen, um den Verpflichtungen aus dieser Richtlinie spätestens zum 23. März 2005 nachzukommen, oder sicherstellen, dass die Sozialpartner bis zu diesem Zeitpunkt diese Bestimmungen einführen; dabei haben die Mitgliedstaaten alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um jederzeit gewährleisten zu können, dass die in der Richtlinie vorgeschriebenen Ergebnisse erreicht werden.

Französisches Recht

Nach Art. L. 2312-1 des französischen Arbeitsgesetzbuchs (Code du travail) müssen bei allen Betrieben mit mindestens elf Beschäftigten Belegschaftsvertreter gewählt werden.

Sobald ein Unternehmen oder ein Betrieb mindestens 50 Beschäftigte aufweist, ernennen die Gewerkschaftsorganisationen gemäß den Art. L. 2142-1-1 und L. 2143-3 des Arbeitsgesetzbuchs einen Gewerkschaftsvertreter und setzen nach Art. L. 2322-1 des Arbeitsgesetzbuchs einen Betriebsrat ein.

Art. L. 1111-2 des Arbeitsgesetzbuchs bestimmt:

 „Für die Umsetzung der Bestimmungen des Arbeitsgesetzbuchs wird die Beschäftigtenzahl des Unternehmens wie folgt berechnet:

1°      Arbeitnehmer mit einem unbefristeten Vollzeitarbeitsvertrag und Heimarbeiter werden bei der Beschäftigtenzahl voll berücksichtigt;

2°       Befristet beschäftigte Arbeitnehmer, Gelegenheitsarbeiter und dem Unternehmen von einem externen Unternehmen überlassene Arbeitnehmer, die in den Geschäftsräumen des nutzenden Unternehmens anwesend sind und dort mindestens seit einem Jahr arbeiten, sowie Zeitarbeiter werden bei der Beschäftigtenzahl des Unternehmens entsprechend der Zeit ihrer Anwesenheit während der letzten zwölf Monate anteilig berücksichtigt. Befristet beschäftigte Arbeitnehmer und von einem externen Unternehmen überlassene Arbeitnehmer einschließlich Zeitarbeiter sind jedoch von der Berechnung der Beschäftigtenzahl ausgeschlossen, wenn sie einen abwesenden Arbeitnehmer oder einen Arbeitnehmer, dessen Vertrag insbesondere wegen Mutterschaftsurlaubs, Adoptionsurlaubs oder Erziehungsurlaubs ausgesetzt ist, ersetzen;

3°      In Teilzeit beschäftigte Arbeitnehmer werden unabhängig von der Natur ihres Arbeitsvertrags dadurch berücksichtigt, dass die Gesamtsumme der in ihren Arbeitsverträgen genannten Arbeitsstunden durch die gesetzliche oder die tariflich vereinbarte Arbeitszeit geteilt wird.“

Art. L. 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs bestimmt:

„Bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens nicht berücksichtigt werden:

1)      Lehrlinge;

2)      im Rahmen eines Beschäftigungsinitiativvertrags Beschäftigte während der Laufzeit der Konvention gemäß Art. L. 5134-66;

3)      (aufgehoben);

4)      im Rahmen eines beschäftigungsbegleitenden Vertrags Beschäftigte während der Laufzeit der Konvention gemäß Art. L. 5134-19-1;

5)      (aufgehoben);

6)       im Rahmen eines Berufsbildungsvertrags Beschäftigte bis zum vertraglich vorgesehenen Ende bei einem befristeten Vertrag oder bis zum Ende der Berufsbildungsmaßnahme bei einem unbefristeten Vertrag.

Jedoch werden diese Beschäftigten für die Anwendung der Rechtsvorschriften in Bezug auf die Tarifierung des Risikos von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten berücksichtigt.“

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Die AMS ist eine Vereinigung gemäß dem Gesetz vom 1. Juli 1901 über den Gründungsvertrag von Vereinigungen. Sie beteiligt sich an der Durchführung von Maßnahmen der sozialen Mediation und der Kriminalitätsprävention in der Stadt Marseille (Frankreich). Eine weitere Aufgabe ist die berufliche Wiedereingliederung von Arbeitslosen oder Personen, die aus sozialen oder beruflichen Gründen Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Ihnen bietet die AMS an, über eine individuelle Berufsbildungsmaßnahme eine Berufsausbildung im Bereich der sozialen Mediation zu erwerben.

Am 4. Juni 2010 ernannte die Union départementale CGT des Bouches-du-Rhône Herrn Laboubi zum Vertreter der innerhalb der AMS geschaffenen Gewerkschaftssektion.

Die AMS widersprach dieser Ernennung. Sie ist der Ansicht, dass sie weniger als elf und erst recht weniger als 50 Beschäftigte habe und daher nach der einschlägigen nationalen Regelung nicht verpflichtet sei, Maßnahmen im Hinblick auf die Arbeitnehmervertretung, wie die Wahl eines Personalvertreters, zu ergreifen.

Um zu ermitteln, ob die Vereinigung diese Schwellenwerte von elf oder 50 Beschäftigten erreiche, blieben bei der Berechnung ihrer Beschäftigtenzahl nach Art. L. 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs nämlich Lehrlinge, im Rahmen eines Beschäftigungsinitiativvertrags oder eines beschäftigungsbegleitenden Vertrags sowie im Rahmen eines Berufsbildungsvertrags beschäftigte Arbeitnehmer (im Folgenden: Arbeitnehmer, die im Rahmen eines bezuschussten Vertrags beschäftigt sind) unberücksichtigt.

Das Tribunal d’instance de Marseille, bei dem eine Klage der AMS auf Nichtigerklärung der Ernennung von Herrn Laboubi zum Vertreter der CGT-Gewerkschaftssektion und eine Widerklage dieser Gewerkschaft, der AMS aufzugeben, Wahlen zur Einsetzung von Personalvertretungsorganen durchzuführen, anhängig war, übermittelte der Cour de cassation eine vorrangige Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von Art. L. 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs.

Die Cour de cassation legte diese Frage dem Conseil constitutionnel vor. Dieser stellte am 29. April 2011 fest, dass Art. L. 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs verfassungsgemäß sei.

Vor dem Tribunal d’instance de Marseille machten Herr Laboubi und die Union locale des syndicats CGT des Quartiers Nord - denen sich die Union départementale CGT des Bouches-du-Rhône und die CGT freiwillig anschlossen - geltend, dass Art. L. 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs gleichwohl weder mit dem Unionsrecht noch mit den internationalen Verpflichtungen der Französischen Republik vereinbar sei.

Mit einer neuen Entscheidung vom 7. Juli 2011 folgte das Tribunal d’instance de Marseille dieser Argumentation und schloss eine Anwendung der Bestimmungen des Art. L. 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs aus, da diese nicht mit dem Unionsrecht vereinbar seien. Dementsprechend erklärte es die Ernennung von Herrn Laboubi zum Vertreter der Gewerkschaftssektion mit der Feststellung für gültig, dass die Beschäftigtenzahl der fraglichen Vereinigung ohne eine Anwendung der Ausschlussbestimmungen in Art. L. 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs den Schwellenwert von 50 Beschäftigten weit überschreite.

Gegen dieses Urteil legte die AMS Rechtsmittel bei der Cour de cassation ein.

Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Kann das in Art. 27 der Charta anerkannte und durch die Bestimmungen der Richtlinie 2002/14 konkretisierte Grundrecht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden, um die Rechtmäßigkeit einer nationalen Maßnahme zur Umsetzung dieser Richtlinie überprüfen zu lassen?

2.      Wenn ja, sind diese Bestimmungen dahin auszulegen, dass sie einer nationalen gesetzlichen Vorschrift entgegenstehen, die bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens, insbesondere zur Bestimmung der gesetzlichen Schwellenwerte für die Einsetzung von Personalvertretungsorganen, Arbeitnehmer unberücksichtigt lässt, die im Rahmen eines bezuschussten Vertrags beschäftigt sind?

 

Zu den Vorlagefragen

Das vorlegende Gericht möchte mit seinen Fragen, die zusammen zu behandeln sind, im Wesentlichen wissen, ob Art. 27 der Charta für sich genommen oder in Verbindung mit den Bestimmungen der Richtlinie 2002/14 dahin auszulegen ist, dass er, wenn eine nationale Bestimmung zur Umsetzung dieser Richtlinie, wie Art. L. 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs, mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden kann, um diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen.

Hierzu ist erstens festzustellen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass, da die Richtlinie 2002/14 in Art. 2 Buchst. d den Personenkreis definiert hat, der bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens zu berücksichtigen ist, die Mitgliedstaaten nicht eine bestimmte Gruppe von Personen, die ursprünglich zu diesem Kreis gehörte, bei dieser Berechnung unberücksichtigt lassen dürfen (vgl. Urteil vom 18. Januar 2007, Confédération générale du travail u. a., C-385/05, Slg. 2007, I-611, Rn. 34).

Eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige, die bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl eines Unternehmens eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern unberücksichtigt lässt, hat nämlich zur Folge, dass bestimmte Arbeitgeber von den in der Richtlinie 2002/14 vorgesehenen Verpflichtungen ausgenommen und ihren Arbeitnehmern die von dieser Richtlinie zuerkannten Rechte vorenthalten werden. Sie ist daher geeignet, diese Rechte auszuhöhlen, und nimmt so dieser Richtlinie ihre praktische Wirksamkeit (vgl. Urteil Confédération générale du travail u. a., Rn. 38).

Zwar entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass die von der französischen Regierung im Ausgangsverfahren vorgebrachte Förderung der Beschäftigung ein legitimes Ziel der Sozialpolitik darstellt und dass die Mitgliedstaaten bei der Wahl der zur Verwirklichung ihrer sozialpolitischen Ziele geeigneten Maßnahmen über einen weiten Ermessensspielraum verfügen (vgl. Urteil Confédération générale du travail u. a., Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Jedoch darf dieser Ermessensspielraum, über den die Mitgliedstaaten im Bereich der Sozialpolitik verfügen, nicht dazu führen, dass ein tragender Grundsatz des Unionsrechts oder eine Vorschrift des Unionsrechts ausgehöhlt wird (vgl. Urteil Confédération générale du travail u. a., Rn. 29).

Eine Auslegung der Richtlinie 2002/14, wonach deren Art. 3 Abs. 1 es den Mitgliedstaaten erlaubt, bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens aus Gründen wie den von der französischen Regierung im Ausgangsverfahren vorgebrachten eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern nicht zu berücksichtigen, wäre mit Art. 11 dieser Richtlinie, der vorsieht, dass die Mitgliedstaaten alle notwendigen Maßnahmen zu treffen haben, um gewährleisten zu können, dass die in der Richtlinie 2002/14 vorgeschriebenen Ergebnisse erreicht werden, insofern unvereinbar, als damit impliziert würde, dass es den Mitgliedstaaten erlaubt wäre, sich dieser klar und eindeutig durch das Unionsrecht festgelegten Ergebnispflicht zu entziehen (vgl. Urteil Confédération générale du travail u. a., Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Nach alledem ist daher festzustellen, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2002/14 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung wie Art. L. 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs entgegensteht, die bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens zur Ermittlung der gesetzlichen Schwellenwerte für die Einsetzung von Personalvertretungsorganen Arbeitnehmer unberücksichtigt lässt, die im Rahmen eines bezuschussten Vertrags beschäftigt sind.

Zweitens ist zu prüfen, ob die Richtlinie 2002/14, insbesondere Art. 3 Abs. 1, die Voraussetzungen erfüllt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten, und ob sich die Beklagten des Ausgangsverfahrens, falls dies der Fall sein sollte, gegenüber der AMS darauf berufen können.

Insoweit ist daran zu erinnern, dass sich der Einzelne nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen kann, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (vgl. Urteil vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835, Rn. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall sieht Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2002/14 vor, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, zu bestimmen, nach welcher Methode die Schwellenwerte für die Beschäftigtenzahl errechnet werden.

Art. 3 Abs.1 der Richtlinie 2002/14 lässt den Mitgliedstaaten zwar einen bestimmten Gestaltungsspielraum beim Erlass der für die Umsetzung der Richtlinie erforderlichen Maßnahmen, doch beeinträchtigt dies nicht die Genauigkeit und Unbedingtheit der in diesem Artikel vorgesehenen Verpflichtung, alle Arbeitnehmer zu berücksichtigen.

Der Gerichtshof hat nämlich, wie in Rn. 24 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bereits festgestellt, dass die Mitgliedstaaten, da die Richtlinie 2002/14 den Personenkreis definiert hat, der bei dieser Berechnung zu berücksichtigen ist, nicht eine bestimmte Gruppe von Personen, die ursprünglich zu diesem Kreis gehörte, bei dieser Berechnung unberücksichtigt lassen dürfen. Diese Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten zwar nicht vor, auf welche Weise sie die in ihren Anwendungsbereich fallenden Arbeitnehmer bei der Berechnung der Schwellenwerte für die Beschäftigtenzahl berücksichtigen müssen, wohl aber, dass sie sie berücksichtigen müssen (vgl. Urteil Confédération générale du travail u. a., Rn. 34).

Aus dieser Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2002/14 (vgl. Urteil Confédération générale du travail u. a., Rn. 40) folgt, dass diese Bestimmung die Voraussetzungen erfüllt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten.

Jedoch kann nach ständiger Rechtsprechung sogar eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung finden (vgl. Urteile Pfeiffer u. a., Rn. 109, und vom 19. Januar 2010, Kücükdeveci, C-555/07, Slg. 2010, I-365, Rn. 46).

Hierzu ist in Rn. 13 des vorliegenden Urteils festgestellt worden, dass die AMS eine Vereinigung privaten Rechts ist, auch wenn sie eine soziale Zielsetzung hat. Daraus ergibt sich, dass sich die Beklagten des Ausgangsverfahrens aufgrund der Rechtsnatur der AMS dieser Vereinigung gegenüber nicht auf die Bestimmungen der Richtlinie 2002/14 als solche berufen können (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 24. Januar 2012, Dominguez, C-282/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 42).

Gleichwohl hat der Gerichtshof entschieden, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit zwischen Privatpersonen anhängig ist, bei der Anwendung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die zur Umsetzung der in einer Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen erlassen worden sind, das gesamte nationale Recht berücksichtigen und es so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie auslegen muss, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar ist (vgl. Urteile vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a., C-212/04, Slg. 2006, I-6057, Rn. 111, sowie Pfeiffer u. a., Rn. 119, und Dominguez, Rn. 27).

Der Gerichtshof hat jedoch festgestellt, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken unterliegt. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ihre Schranken und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (vgl. Urteile vom 15. April 2008, Impact, C-268/06, Slg. 2008, I-2483, Rn. 100, und Dominguez, Rn. 25).

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass die Cour de Cassation meint, im Ausgangsverfahren einer solchen Schranke gegenüberzustehen, so dass Art. L. 1111-3 des Code du travail einer mit der Richtlinie 2002/14 vereinbaren Auslegung nicht zugänglich sei.

Unter diesen Umständen ist drittens zu prüfen, ob der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens mit dem der Rechtssache Kücükdeveci zugrunde liegenden vergleichbar ist, so dass Art. 27 der Charta für sich genommen oder in Verbindung mit den Bestimmungen der Richtlinie 2002/14 in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden kann, um gegebenenfalls die Anwendung der nicht richtlinienkonformen nationalen Bestimmung auszuschließen.

Im Hinblick auf Art. 27 der Charta als solchem ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden (vgl. Urteil vom 26. Februar 2013, Ã…kerberg Fransson, C-617/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 19).

Da die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung die Umsetzung der Richtlinie 2002/14 darstellt, findet Art. 27 der Charta auf die vorliegende Rechtssache Anwendung.

Weiter ist festzustellen, dass Art. 27 („Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen“) der Charta bestimmt, dass für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf verschiedenen Ebenen eine Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein muss, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind.

Aus dem Wortlaut von Art. 27 der Charta geht somit klar hervor, dass er, damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss.

Das in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2002/14 enthaltene und an die Mitgliedstaaten gerichtete Verbot, bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern, die ursprünglich zu dem Kreis der bei dieser Berechnung zu berücksichtigenden Personen gehörte, auszuschließen, lässt sich nämlich als unmittelbar anwendbare Rechtsnorm weder aus dem Wortlaut des Art. 27 der Charta noch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel herleiten.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich die Umstände des Ausgangsverfahrens von denen unterscheiden, die zum Urteil Kücükdeveci geführt haben, da das in Art. 21 Abs. 1 der Charta niedergelegte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, um das es in jener Rechtssache ging, schon für sich allein dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann.

Demnach kann Art. 27 der Charta als solcher in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens nicht geltend gemacht werden, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass die mit der Richtlinie 2002/14 nicht konforme nationale Bestimmung unangewendet zu lassen ist.

Diese Feststellung kann nicht dadurch entkräftet werden, dass Art. 27 der Charta im Zusammenhang mit den Bestimmungen der Richtlinie 2002/14 betrachtet wird. Da dieser Artikel nämlich für sich allein nicht ausreicht, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das dieser als solches geltend machen kann, kann bei einer solchen Zusammenschau nichts anderes gelten.

Die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigte Partei kann sich jedoch auf die mit dem Urteil vom 19. November 1991, Francovich u. a. (C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357), begründete Rechtsprechung berufen, um gegebenenfalls Ersatz des entstandenen Schadens zu erlangen (vgl. Urteil Dominguez, Rn. 43)

Aus alledem ergibt sich, dass Art. 27 der Charta für sich genommen oder in Verbindung mit den Bestimmungen der Richtlinie 2002/14 dahin auszulegen ist, dass er, wenn eine nationale Bestimmung zur Umsetzung dieser Richtlinie, wie Art. L. 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs, mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht geltend gemacht werden kann, um diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen.

 

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.



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