Arbeitsgericht Mainz

Beschluss vom - Az: 6 BV 12/11

Außerordentliche Verdachtskündigung eines Schwerbehindertenvertreters wegen unerlaubtem E-Mail-Zugriff

Vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung gegenüber einem Schwerbehindertenvertreter bedarf es der Zustimmung des Betriebsrates gemäß § 103 BetrVG.
Ein - zur Kündigung berechtigender - dringender Tatverdacht, wonach der betreffende Arbeitnehmer auf E-Mails eines kaufmännischen Leiters des Betriebes zugegriffen haben soll, liegt nicht vor, wenn das als Beweis angebotene Protokoll jegliche Zugriffe auf das E-Mail-Postfach anzeigt und keine bestimmten Personen verdächtigt werden können.
(Redaktioneller Orientierungssatz)

Die Anträge werden abgewiesen.

 

Gründe

I.

Mit vorliegendem Verfahren begehrt die Antragstellerin die Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung des Schwerbehindertenvertreters bei der Antragstellerin, des Antragsgegners zu 2. und Beteiligten zu 3.

Die Antragstellerin ist ein Unternehmen im Bereich der Lager- und Kommissioniertechnik mit Hauptsitz in A-Stadt.

Der Antragsgegner zu 2. ist seit dem 02.01.1992 bei der Antragstellerin beschäftigt und seit 1999 als IT-Netzwerk- und Systemadministrator tätig.

Im Zeitraum Ende April / Anfang Mai 2011 befand sich der Beteiligte zu 3. im Konflikt mit dem kaufmännischen Leiter der Antragstellerin, R... S... . In der Sache ging es um die Veranlassung einer Dienstreise des Antragsgegners zu 2. nach Österreich.

Dieserhalb hat die Antragsgegnerin dem Beteiligten zu 3. am 20.05.2011 eine Abmahnung wegen Nichtbeachtung einer Dienstanweisung übergeben.

Weil der kaufmännische Leiter im Rahmen der Auseinandersetzung den Verdacht hatte, der Beteiligte zu 3. verfüge über Informationen aus vertraulichen E-Mails, beauftragte er die Firma U... Informationssysteme GmbH, B-Stadt, mit der Überprüfung der Zugriffe auf den persönlichen E-Mail-Briefkasten.

Mit Bericht vom 19.05.2011 hat die Firma U... Informationssysteme GmbH mitgeteilt, dass der User MM... - der Beteiligte zu 3. - im Zeitraum vom 16.05.2011 bis 18.05.2011 insgesamt 15-mal auf das Postfach des Herrn S... zugegriffen habe.

Die Protokollierung war vermittels des so genannten "Event ..." erfolgt.

Die Antragstellern hat vorgetragen,

unter Berücksichtigung der festgestellten Umstände sei davon auszugehen, dass der Beteiligte zu 3. die E-Mails des Herrn S... tatsächlich gelesen habe. Da der Beteiligte zu 3. keinerlei Zuständigkeiten für die E-Mail-Postfächer insbesondere des Herrn S.  habe, aber zumindest der dringende Verdacht des unerlaubten Zugriffs auf den Inhalt dieser E-Mail-Postfächer bestehe, sei die außerordentliche Kündigung gerechtfertigt. Weil der Betriebsrat auf den am 25.05.2011 gestellten Antrag auf Erteilung der Zustimmung der Kündigung des Beteiligten zu 3. mit Schreiben vom 27.05. (Bl. 27 d. A.) ablehnend geantwortet habe, sei die entsprechende gerichtliche Ersetzung der Zustimmung von Nöten.

Die Antragstellerin hat beantragt:

1. Die Zustimmung des Antragsgegners zur außerordentlichen Kündigung des Mitglieds der Schwerbehindertenvertretung, Herrn E., des Beteiligten zu 3., wird ersetzt.

2. Die Zustimmung des Antragsgegners zur außerordentlichen Verdachts-Kündigung des Mitglieds der Schwerbehindertenvertretung, Herrn E., wird ersetzt.

Die Antragsgegner haben beantragt,

die Anträge zurückzuweisen.

Sie haben geltend gemacht,

der Beteiligte zu 3. habe zu keinem Zeitpunkt Zugriff auf die E-Mails des kaufmännischen Leiters S... genommen. Im Übrigen sei der Antrag unzulässig, da die Zustimmungserteilung bei der Schwerbehindertenvertretung hätte beantragt werden müssen - LAG Hamm vom 21. Januar 2011 - 13 Ta BV 72/10 -. Im Übrigen habe eine Anhörung des Beteiligten zu 3. keinesfalls stattgefunden. Am 24.05. sei er vielmehr ohne Ankündigung überfallartig angesprochen worden. Insbesondere sei ihm nicht mitgeteilt worden, dass die protokollierten Zugriffe allein auf die Verursachung des Events ... zurückgeführt worden seien. Das Event ... signalisiere nicht den Zugriff auf das E-Mail Postfach, sondern nur allgemein auf das Postfach. Es werde also bereits dann ausgelöst, wenn lediglich ein Kalenderabgleich erfolge. So könnten gehäufte Abgleiche des Kalenders etwa dadurch entstehen, dass der Kalenderabgleich im Outlook nicht beschlossen werde, sondern im Hintergrund weiterlaufe. In diesem Fall würde jedes Mal, wenn der Computer in den Standby-Modus wechsele und wieder hochgefahren werde, der Kalenderabgleich aktualisiert. Letztlich seien die Berichte offensichtlich konstruiert. Der Beteiligte zu 3. sei nur Domänenadministrator gewesen und sonst nichts.

Im Laufe des Verfahrens hat die Kammer durch Beweisbeschluss vom 26.07.2011 (Bl. 173 d. A.) Beweis durch Sachverständigengutachten erhoben, ob das Protokoll der Zugriffe auf das E-Mail-Konto ... .de durch den Nutzer MM... nach dem Event ... zuverlässig aussagt, dass ein Zugriff auf den Nachrichtenordner selbst erfolgt ist.

Das diesbezügliche Gutachten des Sachverständigen H. (Bl. 220 d. A.) ergab, dass die gewählte Methode im Untersuchungsbericht E-Mail-Kommunikation sich nicht eignet, einen Fremdzugriff durch den Benutzer B.../MM... auf den Nachrichtenordner des E-Mail-Kontos ... .de nachzuweisen. Das Protokoll der Zugriffe auf das E-Mail-Konto ... .de durch den Nutzer MM... nach dem Event ... sage nicht zuverlässig aus, dass ein Zugriff auf den Nachrichtenordner selbst erfolgt sei.

In der Folgezeit erging am 11.10.2011 (Bl. 307 ff. d. A.) ergänzender Beweisbeschluss dahingehend, ob über das Event ... ein derartiger Zugriff nachweisbar sei, falls der User Administratorenrechte habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Beweisbeschlusses wird auf Bl. 308 und Bl. 309 der Akte verwiesen.

Das hierzu ergangene ergänzende Gutachten des Sachverständigen H. (Bl. 376 ff., das im Anschluss an eine Ortsbegehung vom 11.11.2011 erstellt wurde, hat festgestellt, dass die Standardberechtigungen der Gruppendomänenadministratoren, der Administratoren und des Benutzers Administrator, entgegen der Aussage der Serveradministration maßgeblich verändert worden seien. Diese Veränderung sei bewusst und von einer Person mit genauen Systemkenntnissen durchgeführt worden. Das Windows-Sicherheitsprotokoll, was laut Systemeinstellungen an den Servern Ereignisse von mindestens vier Wochen beinhalten müsste, sei am 10.11.2011 gelöscht worden. Anhand dieses Protokolls kann laut Gutachter ermittelt werden, ob diese Berechtigungen innerhalb der letzten Wochen geändert wurden (vgl. Bl. 380 d. A.).

Unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der Ortsbegehung bestehenden Berechtigungseinstellungen hatte der Testbenutzer, egal in welcher Gruppe er sich befand, keinen Zugriff auf ein fremdes Postfach. Es fehlten an allen Gruppen weitere Berechtigungseinstellungen, die einen Zugriff ermöglicht hätten. Im aktuell veränderten System hatten die Benutzer der Gruppe "Domänenadministratoren" keinen Zugriff auf fremde Postfächer (dies sei in unveränderten Microsoft 2003 Exchangesystemen standardmäßig so eingestellt). Der Event ... bei dem Benutzer MM 294 (= Beteiligter zu 3.), der standardmäßig als Domänenadministrator laut derzeitigen Untersuchungsergebnissen keinen vollen Zugriff auf sämtliche Postfächer gehabt habe, könne weiterhin einen erfolgreichen Zugriff oder einen verweigerten Zugriff auf ein Postfach bedeuten. Eine eindeutige Beantwortung des Beweisthemas für den Zeitraum 16.05. bis 18.05.2011 lasse sich nur durch eine Wiederherstellung der Systemkonfiguration vor dem 16.05.2011 erreichen. Diese Systemkonfiguration sei nicht zuverlässig im o. g. Sinne nachstellbar. Ein sicheres veränderungsresistentes Backup existiere nicht. Insbesondere könne, wenn an dem laufenden, aktuellen System der Bito unerklärbare Änderungen an den Systemberechtigungen gemacht werden konnten, es nicht ausgeschlossen werden, dass auch die bestehenden Backup-Dateien auf den Backup-Medien verändert worden seien, da diese Dateien nicht unter Verschluss gestanden hätten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachvortrages der Beteiligten und der Prozessgeschichte wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II.

Die Anträge der Antragstellerin sind zulässig, im Ergebnis aber unbegründet.

Die Anträge der Antragstellerin führen weder im ersten, noch im zweiten Antrag zum Ziel.

Im Einzelnen:

Die Antragstellerin hat vorliegend keinen Anspruch auf Ersetzung der Zustimmung des Betriebsrats zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Beteiligten zu 3. Gemäß § 96 Abs. 3 Satz 1 SGB IX besitzen die Vertrauenspersonen der schwerbehinderten Menschen gegenüber dem Arbeitgeber die gleiche persönliche Rechtsstellung, insbesondere den gleichen Kündigungs-, Versetzungs- und Abordnungsschutz wie ein Mitglied des Betriebsrats.

Dementsprechend bedarf es gemäß § 103 BetrVG vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung auch gegenüber einem Schwerbehindertenvertreter der Zustimmung des Betriebsrates gemäß § 103 BetrVG.

Verweigert der Betriebsrat seine Zustimmung - wie hier geschehen - so kann das Arbeitsgericht sie auf Antrag des Arbeitgebers ersetzen, wenn die außerordentliche Kündigung unter Berücksichtigung aller Umstände gerechtfertigt ist, § 103 Abs. 2 BetrVG.

Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

Nach § 626 Abs. 1 BGB ist bei allen Kündigungsgründen eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und einer Abwägung der jeweiligen Interessen beider Vertragsteile erforderlich. Dieses Erfordernis schließt es aus, bestimmte Tatsachen ohne Rücksicht auf die Besonderheit des Einzelfalles stets aus wichtigem Grund zur außerordentlichen Kündigung anzuerkennen; absolute Kündigungsgründe gibt es in diesem Sinne nicht.

Danach bemisst sich die Überprüfung eines Kündigungsgrundes nach § 626 BGB anhand einer zweistufigen Überprüfung:

Zunächst ist zu prüfen, ob ein bestimmter Grund an sich geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Ob dies der Fall ist, richtet sich nicht nach den Anschauungen und Wertungen der konkret Beteiligten, sondern danach, ob ein ruhig und verständig urteilender Arbeitgeber anstelle des zur Kündigung entschlossenen Arbeitgebers die außerordentliche Kündigung ernsthaft in Erwägung ziehen würde. Ist anhand dieses Prüfungsschrittes die grundsätzliche Eignung des bemühten Grundes zur außerordentlichen Kündigung gegeben, wird auf der zweiten Stufe überprüft, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalles unter Abwägung der Interessen beider vertragsteile zumutbar ist oder nicht.

Vorliegend stützt die Antragstellerin ihren Antrag im Kern darauf, dass der Beteiligte zu 3. E-Mails des kaufmännischen Leiters R... S... unberechtigt eingesehen hat bzw. ein diesbezüglicher dringender Verdacht besteht.

Zwar ist ein derartiger Umstand im Falle seiner Nachweislichkeit, also dahingehend, dass die Kammer entweder von einem entsprechenden Vertragsverstoß des Beteiligten zu 3. überzeugt ist oder ein dringender Verdacht in diesem Sinne besteht und sich eine entsprechende Überzeugung der Kammer gebildet hat, geeignet, als tauglicher außerordentlicher Kündigungsgrund im o. g. Sinne zu fungieren.

Allerdings fehlt es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insoweit beider Sachverständigengutachten, zur Überzeugung der Kammer am entsprechenden Nachweis.

So hat der Gutachter gut nachvollziehbar geschildert, dass das Protokollierungsinstrument "Event ..." grundsätzlich jeden Zugriff auf das Postfach eines Nutzers protokolliert.

Soweit die Antragstellerin ausgeführt hat, im Falle der Ausstattung des Zugreifenden mit Administratorrechten werde ein solches Protokoll nur im Falle des Zugriffs auf das E-Mail-Postfach selbst - also die Inhalte - ausgelöst, konnte der Gutachter unter Berücksichtigung der Systemeinstellungen anlässlich des Ortstermins vom 10.11.2011 derartiges nicht feststellen.

Nach den Ausführungen des Gutachters ist die Ausgangskonfiguration zudem - infolge einer kurz vor dem Ortstermin durchgeführten Manipulation am System mit Vernichtung sämtlicher Protokolldateien, mit denen ein Rückschluss auf die Art der Veränderung nachweisbar wäre - auch nicht zuverlässig wieder herstellbar.

Von daher kommt es - der Beteiligte zu 3. hatte seit Ende Mai überhaupt keine Zugriffsmöglichkeiten auf das System mehr - auch nicht entscheidungserheblich darauf an, wer letztlich die Systemveränderungen veranlasst und durchgeführt hat. Maßgeblich ist, das Anhaltspunkte dafür, dass es der Beteiligte zu 3. war, in keiner Form vorliegen.

Damit lässt sich eine irgendwie geartete Überzeugung, dass der Beteiligte zu 3. auf die E-Mail-Inhalte des kaufmännischen Leiters R... S... unerlaubt Zugriff genommen hat, respektive ein dringender Tatverdacht diesbezüglich letztlich nicht schlüssig begründen.

Vor diesem Hintergrund waren die gestellten Anträge umfänglich abzuweisen.

Das Verfahren ist gerichtsgebührenfrei, so dass eine Kostenentscheidung nicht veranlasst war.



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