Europäischer Gerichtshof

Urteil vom - Az: C-172/11

Diskriminierung von Grenzgängern in Altersteilzeitverträgen; Aufstockungsbetrag

Der Aufstockungsbetrag in der Altersteilzeit darf für im Inland wohnende Arbeitnehmer nicht höher ausfallen als für im Ausland wohnende. Dementsprechend darf in einem Tarif- oder Arbeitsvertrag auch kein fiktiver Lohnabzug vereinbart werden.
Im vorliegenden Fall vereinbarten Arbeitnehmer und Arbeitgeber in einem Altersteilzeitvertrag die Aufstockung des Teilzeitgehalts auf 85 % des bisherigen Nettogehalts gem. Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung. Als Berechnungsgrundlage wurde jedoch eine fiktive Lohnsteuer nach dem deutschem Recht zugrunde gelegt, obwohl der Arbeitnehmer als Grenzgänger in Frankreich die Lohnsteuer zahlte. Dies führte zu einem niedrigerem Aufstockungsbetrag als ihn vergleichbare im Inland wohnende Arbeitnehmer erhalten würden.
(Redaktionelle Orientierungssätze)

Instanzenzug

Tenor

Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft stehen Bestimmungen in Tarif- und Einzelarbeitsverträgen entgegen, nach denen bei der Berechnung eines vom Arbeitnehmer im Rahmen einer Regelung über die Altersteilzeit gezahlten Aufstockungsbetrags wie des im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden die vom Arbeitnehmer im Beschäftigungsmitgliedstaat geschuldete Lohnsteuer bei der Bestimmung der Bemessungsgrundlage für diesen Aufstockungsbetrag fiktiv abgezogen wird, obwohl nach einem Besteuerungsabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen Besoldungen, Löhne und vergleichbare Entgelte, die Arbeitnehmern gezahlt werden, die nicht im Beschäftigungsmitgliedstaat wohnen, in deren Wohnsitzmitgliedstaat besteuert werden. Solche Bestimmungen sind nach Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68 nichtig. Art. 45 AEUV und die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1612/68 belassen den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern die Freiheit der Wahl unter den verschiedenen Lösungen, die zur Verwirklichung des jeweiligen Ziels der Bestimmungen geeignet sind.

 

Tatbestand

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2).

2. Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Erny, einem französischen Staatsangehörigen, der in Frankreich wohnt und in Deutschland arbeitet, und seinem Arbeitgeber, der Daimler AG - Werk Wörth (im Folgenden: Daimler), über die Berechnung einer Herrn Erny im Rahmen der sogenannten Altersteilzeit geschuldeten Aufstockung seines Arbeitsentgelts (im Folgenden: Aufstockungsbetrag).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3. Art. 7 der Verordnung Nr. 1612/68 bestimmt:

„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf auf Grund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.

...

(4) Alle Bestimmungen in Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen oder sonstigen Kollektivvereinbarungen betreffend Zugang zur Beschäftigung, Entlohnung und allen übrigen Arbeits- und Kündigungsbedingungen sind von Rechts wegen nichtig, soweit sie für Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, diskriminierende Bedingungen vorsehen oder zulassen.“

4. Die Verordnung Nr. 1612/68 ist mit Wirkung vom 16. Juni 2011 durch die Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141, S. 1) aufgehoben und ersetzt worden.

Nationales Recht

Altersteilzeitgesetz (AltTZG)

5. In § 1 AltTZG heißt es:

„(1) Durch Altersteilzeitarbeit soll älteren Arbeitnehmern ein gleitender Übergang vom Erwerbsleben in die Altersrente ermöglicht werden.

(2) Die Bundesagentur für Arbeit (Bundesagentur) fördert durch Leistungen nach diesem Gesetz die Teilzeitarbeit älterer Arbeitnehmer, die ihre Arbeitszeit ab Vollendung des 55. Lebensjahres spätestens ab 31. Dezember 2009 vermindern und damit die Einstellung eines sonst arbeitslosen Arbeitnehmers ermöglichen.“

6. § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AltTZG in der bis zum 30. Juni 2004 geltenden Fassung bestimmte:

„(1) Der Anspruch auf die Leistungen nach § 4 [Erstattung des Aufstockungsbetrags in gesetzlicher Höhe durch die Bundesanstalt für Arbeit] setzt voraus, dass

1. der Arbeitgeber aufgrund eines Tarifvertrages, ... einer Betriebsvereinbarung oder einer Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer

a) das Arbeitsentgelt für die Altersteilzeitarbeit um mindestens 20 vom Hundert dieses Arbeitsentgelts, jedoch auf mindestens 70 vom Hundert des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten bisherigen Arbeitsentgelts im Sinne des § 6 Abs. 1 (Mindestnettobetrag), aufgestockt hat. ...“

7. In § 15 Satz 1 AltTZG heißt es:

„Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann durch Rechtsverordnung die Mindestnettobeträge nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a in der bis zum 30. Juni 2004 gültigen Fassung bestimmen. ...“

Mindestnettobetrags-Verordnung

8. Aufgrund der Ermächtigung aus § 15 AltTZG hat das zuständige Bundesministerium die Mindestnettobetrags-Verordnung erlassen; im vorliegenden Fall ist diese in Gestalt der Verordnung vom 19. Dezember 2007 (BGBl. 2007 I, S. 3040) anwendbar.

9. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts ist Bestandteil der Mindestnettobetrags-Verordnung eine Tabelle, die auf 5 Euro aufgerundete Bruttoentgelte aufweist und ihnen - gestaffelt nach den Lohnsteuerklassen - Mindestnettobeträge zuordnet. Entsprechend der Steuerklasse werden die Einkommensteuer ohne Berücksichtigung von individuellen Steuerfreibeträgen sowie der Solidaritätsbeitrag abgezogen. Wegen der Sozialversicherung wird ein pauschaler Satz von 21 % abgezogen, begrenzt auf die monatliche Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung. Die so ermittelten Mindestnettobeträge sind in Höhe von 70 % in der genannten Tabelle ausgewiesen.

Tarifvertrag zur Altersteilzeit

10. Art. 7 des am 23. November 2004 zwischen dem Verband der Pfälzischen Metall-und Elektroindustrie e.V. und der Bezirksleitung der Industriegewerkschaft Metall abgeschlossenen Tarifvertrags zur Altersteilzeit (im Folgenden: Tarifvertrag) bestimmt:

„Der Beschäftigte erhält einen Aufstockungsbetrag nach Maßgabe des § 3 Abs. 1 Nr. 1 a Altersteilzeitgesetz in seiner jeweils gültigen Fassung auf das Altersteilzeitentgelt. Dieser ist jedoch so zu bemessen, dass das monatliche Nettoentgelt mindestens 82 % des um die gesetzlichen Abzüge, die bei den Beschäftigten gewöhnlich anfallen, verminderten monatlichen bisherigen Bruttoarbeitsentgelts ... beträgt.“

Gesamtbetriebsvereinbarung

11. In der DaimlerChrysler AG (jetzt Daimler) wurde am 24. Juli 2000 eine Gesamtbetriebsvereinbarung über die Inanspruchnahme von Altersteilzeit (im Folgenden: Gesamtbetriebsvereinbarung) abgeschlossen, mit der der Aufstockungsbetrag von 82 % auf 85 % erhöht wurde.

12. Ziff. 8.3 dieser Vereinbarung lautet:

„Der Aufstockungsbetrag ist so zu bemessen, dass der Mitarbeiter in der Arbeitsphase mindestens 85 % des um die gesetzlichen Abzüge, die bei den Mitarbeitern gewöhnlich anfallen, verminderten bisherigen Arbeitsentgeltes gemäß Ziffer 8.2.2. erhält; in der Freistellungsphase mindestens 85 % des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Mitarbeitern gewöhnlich anfallen, verminderten bisherigen Arbeitsentgeltes gemäß Ziffer 8.2.3.“

Altersteilzeitvertrag

13. Der Altersteilzeitvertrag der Parteien enthält einen § 5 („Zusätzliche Leistungen des Arbeitgebers“), dessen Abs. 1 lautet:

„Die monatliche Nettoteilzeitvergütung wird gemäß der Gesamtbetriebsvereinbarung der DaimlerChrysler AG auf 85 % der pauschalierten monatlichen Nettovollzeitvergütung aufgestockt (Grundlage: aktuelle Mindestnettoentgeltverordnung). Zusätzlich zu der sich aus § 4 ergebenden Nettoteilzeitvergütung wird daher ein entsprechender monatlicher Aufstockungsbetrag gezahlt.“

 

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Herr Erny ist Grenzgänger im Sinne des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen. Die Vergütung, die er in Deutschland erhält, ist nach Abzug der in Deutschland gezahlten Sozialversicherungsbeiträge in Frankreich zu versteuern. Da die französischen Lohnsteuersätze niedriger sind als die deutschen, erhält ein Arbeitnehmer wie Herr Erny ein höheres Nettoarbeitsentgelt als ein vergleichbarer Arbeitnehmer in Deutschland.

Die Parteien des Ausgangsrechtsstreits schlossen am 17. November 2006 einen Altersteilzeitvertrag ab, nach dem das ursprünglich bestehende Vollzeitarbeitsverhältnis von Herrn Erny seit dem 1. September 2007 als Teilzeitarbeitsverhältnis fortgeführt wird.

Nach diesem Altersteilzeitvertrag endet das Arbeitsverhältnis der Parteien spätestens am 31. August 2012. In der Altersteilzeit erhält Herr Erny zusätzlich zu der Teilzeitvergütung einen Aufstockungsbetrag. Nach § 5 des Altersteilzeitvertrags wird die monatliche Nettoteilzeitvergütung „auf 85 % der pauschalierten monatlichen Nettovollzeitvergütung aufgestockt (Grundlage: aktuelle Mindestnettoentgeltverordnung)“.

Wie oben in Randnr. 9 ausgeführt, enthält die Mindestnettobetrags-Verordnung eine Tabelle, die den Bruttoentgelten - gestaffelt nach den deutschen Lohnsteuerklassen - sogenannte Mindestnettobeträge zuordnet. Entsprechend der Steuerklasse werden die deutsche Lohnsteuer (ohne Berücksichtigung individueller Steuerfreibeträge), der Solidaritätsbeitrag und ein pauschaler Satz von 21 % für Sozialversicherungsbeiträge vom Bruttoentgelt abgezogen. Die so ermittelten Nettolöhne sind in Höhe von 70 % als Mindestnettobetrag in der Tabelle ausgewiesen.

Die an in Deutschland steuerpflichtige Arbeitnehmer gezahlten Aufstockungsbeträge werden nach dem Einkommensteuergesetz nicht besteuert und sind damit auch in der deutschen Sozialversicherung beitragsfrei; sie werden aber bei der Bestimmung des anwendbaren Steuersatzes berücksichtigt.

Was den Aufstockungsbetrag angeht, legt Daimler zunächst als Berechnungsgröße ein fiktives Entgelt in Höhe von 85 % des pauschalierten monatlichen Nettovollzeitentgelts fest. Dazu ermittelt Daimler aus dem Bruttoentgelt, das Herr Erny beziehen würde, wenn er nicht in Altersteilzeit wäre, ein pauschaliertes Nettoentgelt in Höhe von 70 % aus der Tabelle der Mindestnettobeträge und rechnet dieses dann auf 85 % hoch. Im Ausgangsverfahren legte der Arbeitgeber für die Zuordnung in dieser Tabelle fiktiv die deutsche Steuerklasse III (verheirateter Arbeitnehmer) zugrunde.

In einem zweiten Schritt stellt der Arbeitgeber ein „individuelles Altersteilzeitnettogehalt“ des Mitarbeiters fest. Hierfür zieht er bei den Arbeitnehmern, die in Deutschland steuerpflichtig sind, von der Altersteilzeitvergütung (entspricht 50 % des vor der Altersteilzeit erhaltenen Bruttoentgelts) die tatsächlich anfallenden Steuern und Sozialversicherungsbeiträge ab. Bei den Grenzgängern zieht er die tatsächlich anfallenden Sozialversicherungsbeiträge und fiktiv die deutsche Lohnsteuer ab. Dieser Betrag entspricht der Lohnsteuer, die bei einem in Deutschland steuerpflichtigen Arbeitnehmer mit den gleichen individuellen Merkmalen wie der Grenzgänger (Bruttogehalt, Familiensituation) anfallen würde.

Schließlich ergibt sich der Aufstockungsbetrag aus der Differenz zwischen dem fiktiven Entgelt in Höhe von 85 % des pauschalierten Vollzeitmonatsnettogehalts und dem individuellen Altersteilzeitnettogehalt.

Daimler macht geltend, mit ihrer Berechnungsmethode lasse sich eine einheitliche Berechnungsgrundlage für alle in Altersteilzeit beschäftigten Arbeitnehmer schaffen. Bei den Arbeitnehmern werde nie der individuelle Betrag der Steuer berücksichtigt, sondern stets nur die pauschalierte Lohnsteuer, und kein Arbeitnehmer - auch wenn er in Deutschland steuerpflichtig sei - erhalte genau 85 % des Nettobetrags, den er vorher erzielt habe. Die Pauschalierung diene vor allem dazu, die Gesamtbelastung abschätzen zu können, Verwaltungskosten zu sparen und das Verfahren zu vereinfachen. Anders als in der Rechtssache, in der das Urteil vom 16. September 2004, Merida (C-400/02, Slg. 2004, I-8471), ergangen sei, habe der Aufstockungsbetrag keine Kompensationsfunktion, und Daimler habe auch kein bestimmtes Nettogehalt zugesagt, bei dem sie die darauf anfallenden Steuern und Sozialabgaben ganz oder teilweise trüge.

Anders als Daimler vertritt Herr Erny die Auffassung, der Aufstockungsbetrag unterliege in Frankreich der Einkommensteuer und die durch die streitige Berechnungsweise gegebene faktische Doppelbesteuerung stelle eine Diskriminierung dar, da ungleiche Sachverhalte gleich behandelt würden.

Herr Erny erhob deshalb beim vorlegenden Gericht Klage, um von seinem Arbeitgeber einen höheren Aufstockungsbetrag zu erhalten, den er wie folgt berechnet.

Zunächst bestimmt Herr Erny das fiktive Entgelt, das 85 % entspricht, indem er von seinem letzten Bruttovollzeitentgelt den Pauschalsatz von 21 % für Sozialversicherungsbeiträge, nicht aber gemäß der in der Mindestnettobetrags-Verordnung enthaltenen Tabelle mit den Mindestnettobeträgen fiktiv die deutsche Lohnsteuer abzieht. Davon nimmt er dann 85 %. Sodann berechnet er das individuelle Nettoaltersteilzeitentgelt, indem er von seinem Altersteilzeitentgelt (entspricht der Hälfte des Bruttovollzeitentgelts) die tatsächlich anfallenden Sozialabgaben, aber nicht fiktiv die deutsche Lohnsteuer abzieht. Nach dieser Berechnungsmethode entspricht der Unterschied zwischen dem Aufstockungsbetrag, den Daimler Herrn Erny zahlt, und dem Betrag, der sich nach der genannten Methode ergibt, einem Verdienstausfall in Höhe von 424,40 Euro monatlich.

Das vorlegende Gericht führt aus, die Grenzarbeitnehmer, die in Frankreich steuerpflichtig seien, erhielten einen Betrag, der deutlich unterhalb von 85 % ihres bisherigen Nettoeinkommens liege, während Arbeitnehmer, die in Deutschland steuerpflichtig seien, einen Betrag erhielten, der pauschaliert 85 % ihres bisherigen Nettoeinkommens entspreche. Dies liege im Wesentlichen daran, dass die deutschen Steuersätze höher seien als die französischen. Hinzu trete möglicherweise, dass Personen, die sich in der Situation von Herrn Erny befänden, auch den Aufstockungsbetrag in Frankreich versteuern müssten.

Das Arbeitsgericht Ludwigshafen am Rhein hat daher im Hinblick auf das Urteil Merida beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Verstößt eine einzelvertragliche Regelung zur Altersteilzeit, nach der - wie in § 5 Ziff. 1 des Altersteilzeitvertrags der Parteien - auch für Grenzgänger aus Frankreich der vereinbarte Aufstockungsbetrag nach der deutschen Mindestnettobetrags-Verordnung zu berechnen ist, gegen Art. 45 AEUV in seiner Konkretisierung durch Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68?

2. Für den Fall, dass der Gerichtshof die Frage 1 bejaht:

Sind entsprechende kollektivvertragliche Regelungen - wie Ziff. 8.3 der Gesamtbetriebsvereinbarung vom 24. Juli 2000 und § 7 des Tarifvertrags vom 23. November 2004 - unter Berücksichtigung der Vorgaben aus Art. 45 AEUV in seiner Konkretisierung durch Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68 dahin gehend auszulegen, dass bei Grenzgängern die Berechnung des Aufstockungsbetrags nicht nach der Tabelle der Mindestnettobetrags-Verordnung zu erfolgen hat?

 

Zu den Vorlagefragen

Zur Zulässigkeit

Daimler macht geltend, das vorlegende Gericht habe keine Zweifel an der Tragweite des Unionsrechts; vielmehr bitte es den Gerichtshof um Hilfe bei der Auslegung der einschlägigen deutschen Rechtsvorschriften sowie der Gesamtbetriebsvereinbarung und des Tarifvertrags. Der Gerichtshof sei aber nur für die Entscheidung über die Auslegung und die Gültigkeit des Unionsrechts zuständig, so dass das Vorabentscheidungsersuchen als unzulässig zurückzuweisen sei.

Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

Zwar ist der Gerichtshof im Rahmen von Art. 267 AEUV weder zur Auslegung vertraglicher Bestimmungen oder innerstaatlicher Rechtsvorschriften noch zu Äußerungen über deren Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht befugt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 11. März 2010, Attanasio Group, C-384/08, Slg. 2010, I-2055, Randnr. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Wie das vorlegende Gericht aber ausdrücklich festgestellt hat, betrifft das Vorabentscheidungsersuchen die „Auslegung von Unionsrecht“, insbesondere Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68.

Nach ständiger Rechtsprechung hat der Gerichtshof seine Prüfung auf die Bestimmungen des Unionsrechts zu beschränken und dieses in einer für das vorlegende Gericht sachdienlichen Weise auszulegen; diesem obliegt es, die Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften und der vertraglichen Bestimmungen mit dem Unionsrecht zu beurteilen (Urteil Attanasio Group, Randnr. 19).

Mit dieser Einschränkung ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zur Begründetheit

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68 dahin auszulegen sind, dass sie Bestimmungen in Tarif- und Einzelarbeitsverträgen entgegenstehen, nach denen bei der Berechnung eines vom Arbeitnehmer im Rahmen einer Regelung über die Altersteilzeit gezahlten Aufstockungsbetrags wie des im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden die vom Arbeitnehmer im Beschäftigungsmitgliedstaat geschuldete Lohnsteuer bei der Bestimmung der Bemessungsgrundlage für diesen Aufstockungsbetrag fiktiv abgezogen wird, obwohl nach einem Besteuerungsabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen Besoldungen, Löhne und vergleichbare Entgelte, die Arbeitnehmern gezahlt werden, die nicht im Beschäftigungsmitgliedstaat wohnen, in deren Wohnsitzmitgliedstaat besteuert werden. Wenn ja, möchte das vorlegende Gericht wissen, wie sich dies auf die Berechnung des diesen Arbeitnehmern geschuldeten Aufstockungsbetrags auswirkt.

Nach Art. 45 Abs. 2 AEUV ist jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen verboten.

Das Diskriminierungsverbot gemäß dieser Bestimmung gilt nicht nur für Akte der staatlichen Behörden, sondern auch für alle die abhängige Erwerbstätigkeit kollektiv regelnden Tarifverträge und alle Verträge zwischen Privatpersonen (vgl. u. a. Urteil vom 17. Juli 2008, Raccanelli, C-94/07, Slg. 2008, I-5939, Randnr. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68, der bestimmte aus Art. 45 AEUV folgende Rechte der Wanderarbeitnehmer verdeutlicht und durchführt (Urteil Merida, Randnr. 19), sieht vor, dass alle Bestimmungen in Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen betreffend u. a. Entlohnung und alle übrigen Arbeits- und Kündigungsbedingungen von Rechts wegen nichtig sind, soweit sie für Arbeitnehmer, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, diskriminierende Bedingungen vorsehen.

Eine Leistung wie der Aufstockungsbetrag, der bei den in Altersteilzeit beschäftigten Arbeitnehmern zusätzlich zum Arbeitsentgelt gezahlt wird, fällt als Entgeltbestandteil zweifellos in den sachlichen Geltungsbereich der in der vorstehenden Randnummer genannten Bestimmungen, auch wenn der Aufstockungsbetrag nach dem Altersteilzeitgesetz in Form einer Erstattung an den Arbeitgeber zum Teil durch öffentliche Mittel finanziert wird. Ein Grenzgänger in der Lage von Herrn Erny kann sich in Bezug auf einen solchen Aufstockungsbetrag auf diese Bestimmungen berufen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Merida, Randnr. 20).

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs verbietet der sowohl in Art. 45 AEUV als auch in Art. 7 der Verordnung Nr. 1612/68 niedergelegte Gleichbehandlungsgrundsatz nicht nur offene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen (vgl. u. a. Urteil vom 23. Mai 1996, O’Flynn, C-237/94, Slg. 1996, I-2617, Randnr. 17).

Das Diskriminierungsverbot verlangt nicht nur, dass gleiche Sachverhalte nicht ungleich behandelt werden, sondern auch, dass ungleiche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden (vgl. u. a. Urteil Merida, Randnr. 22).

Eine Vorschrift des nationalen Rechts oder eine vertragliche Bestimmung ist, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck steht, als mittelbar diskriminierend anzusehen, wenn sie sich ihrem Wesen nach eher auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt (vgl. u. a. Urteil Merida, Randnr. 23). Um eine Maßnahme als mittelbar diskriminierend qualifizieren zu können, muss sie nicht bewirken, dass alle Inländer begünstigt werden oder dass unter Ausschluss der Inländer nur die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten benachteiligt werden (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 14. Juni 2012, Kommission/Niederlande, C-542/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 38).

Im vorliegenden Fall wirkt sich die fiktive Berücksichtigung der deutschen Lohnsteuer insoweit nachteilig auf die Situation der Grenzgänger aus, als der fiktive Abzug dieser Steuer bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage des Aufstockungsbetrags Personen, die wie Herr Erny in einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland ansässig und steuerpflichtig sind, gegenüber Arbeitnehmern benachteiligt, die in Deutschland ihren Wohnsitz haben und dort steuerpflichtig sind.

Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts erhalten die in Altersteilzeit beschäftigten Arbeitnehmer, die in Deutschland steuerpflichtig sind, bei der Berechnung des Aufstockungsbetrags nach Maßgabe der Mindestnettobetrags-Verordnung nämlich einen Betrag, der etwa 85 % ihres bisherigen Nettovollzeiteinkommens entspricht. Dies hängt damit zusammen, dass diese Verordnung auf Einstufungen und Besonderheiten der deutschen Lohnsteuer beruht und daher die bisherige steuerliche Situation dieser Arbeitnehmer berücksichtigt und abgebildet wird.

Hingegen erhalten Grenzgänger einen Betrag, der deutlich unterhalb von 85 % ihres bisherigen Nettoeinkommens liegt. Dies liegt dem vorlegenden Gericht zufolge im Wesentlichen daran, dass in die Tabelle der genannten Mindestnettobetrags-Verordnung die deutschen Lohnsteuersätze eingearbeitet sind, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung gegolten haben und höher sind als vergleichbare Steuersätze in Frankreich. Es wird damit eine „fiktive“ Steuersituation zugrunde gelegt, die in keinem Zusammenhang mit dem bisherigen Nettovollzeiteinkommen steht.

Mithin hat die fiktive Zugrundelegung des deutschen Lohnsteuersatzes bei Grenzgängern zur Folge, dass der gezahlte Betrag anders als im Allgemeinen bei Arbeitnehmern mit Wohnsitz in Deutschland nicht etwa 85 % des bisherigen Nettovollzeiteinkommens entspricht.

Im Übrigen wird der Aufstockungsbetrag, den Grenzgänger wie Herr Erny erhalten, wie dieser, ohne dass Daimler insoweit widersprochen hätte, in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, in Frankreich besteuert.

Zur Rechtfertigung dieses Berechnungsmodus im Fall der Grenzgänger beruft sich Daimler auf die administrativen Schwierigkeiten, die die Anwendung verschiedener Berechnungsmodi nach dem jeweiligen Wohnsitz des Betreffenden auslösen würde, und auf die finanziellen Auswirkungen bei Nichtberücksichtigung der deutschen Lohnsteuer.

Diese Rechtfertigungen, die sich aus der Erhöhung der finanziellen Lasten und eventuellen administrativen Schwierigkeiten herleiten, sind jedoch zurückzuweisen. Derartige Gründe können nämlich die Nichtbeachtung der sich aus dem Verbot der auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung gemäß Art. 45 AEUV ergebenden Verpflichtungen nicht rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Merida, Randnr. 30); der öffentliche oder private Charakter der streitigen Bestimmungen hat keinen Einfluss auf die Tragweite oder den Inhalt dieser Rechtfertigungsgründe (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 15. Dezember 1995, Bosman, C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 86).

Daimler beruft sich außerdem auf die Tarifautonomie.

Zwar geht u. a. aus Art. 152 Abs. 1 AEUV hervor, dass die Union die Autonomie der Sozialpartner achtet; das Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihrer jeweiligen Organisationen, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen, wie es in Art. 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt, muss aber im Einklang mit dem Unionsrecht ausgeübt werden (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 13. September 2011, Prigge u. a., C-447/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 47) und somit in Einklang mit dem Diskriminierungsverbot.

Schließlich kommt es nicht darauf an, dass die Arbeitnehmer, die sich in der Situation von Herrn Erny befinden, vorab von ihrem Arbeitgeber über die Methode der Berechnung des Aufstockungsbetrags unterrichtet worden sind und die Altersteilzeit nicht hätten in Anspruch nehmen müssen. Wie oben in Randnr. 36 ausgeführt, gilt das Diskriminierungsverbot gemäß Art. 45 AEUV für alle die abhängige Erwerbstätigkeit kollektiv regelnden Tarifverträge und alle Verträge zwischen Privatpersonen.

Nach Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68 sind Bestimmungen in Tarif- oder Einzelarbeitsverträgen, die eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit bewirken, von Rechts wegen nichtig.

Weder Art. 45 AEUV noch die Verordnung Nr. 1612/68 schreibt den Mitgliedstaaten oder einem privaten Arbeitgeber wie Daimler eine bestimmte Maßnahme im Fall einer Verletzung des Diskriminierungsverbots vor. Diese Bestimmungen belassen ihnen nach Maßgabe der unterschiedlichen denkbaren Sachverhalte die Freiheit der Wahl unter den verschiedenen Lösungen, die zur Verwirklichung des jeweiligen Ziels der Bestimmungen geeignet sind (Urteil Raccanelli, Randnr. 50).

Somit ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68 Bestimmungen in Tarif- und Einzelarbeitsverträgen entgegenstehen, nach denen bei der Berechnung eines vom Arbeitnehmer im Rahmen einer Regelung über die Altersteilzeit gezahlten Aufstockungsbetrags wie des im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden die vom Arbeitnehmer im Beschäftigungsmitgliedstaat geschuldete Lohnsteuer bei der Bestimmung der Bemessungsgrundlage für diesen Aufstockungsbetrag fiktiv abgezogen wird, obwohl nach einem Besteuerungsabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen Besoldungen, Löhne und vergleichbare Entgelte, die Arbeitnehmern gezahlt werden, die nicht im Beschäftigungsmitgliedstaat wohnen, in deren Wohnsitzmitgliedstaat besteuert werden. Solche Bestimmungen sind nach Art. 7 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1612/68 nichtig. Art. 45 AEUV und die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1612/68 belassen den Mitgliedstaaten und den Sozialpartnern die Freiheit der Wahl unter den verschiedenen Lösungen, die zur Verwirklichung des jeweiligen Ziels der Bestimmungen geeignet sind.

 

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.



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