Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz

Urteil vom - Az: 5 Sa 55/14

Den Vorgesetzten im Kollegenkreis beleidigt - Arbeitnehmer darf auf Stillschweigen vertrauen

(1.) Bezeichnet ein Arbeitnehmer seinen Vorgesetzten im Gespräch mit Arbeitskollegen als "Psychopathen" und "Irren, der eingesperrt werden sollte", so rechtfertigt dies grundsätzlich eine außerordentliche Kündigung. Im Einzelfall kann jedoch eine Abmahnung ein milderes, gleichgeeignetes Mittel gegen künftige Vertragsverletzungen sein. Dies gilt insbesondere, wenn der Arbeitnehmer nicht mit der Störung des Betriebsfriedens bzw. des Vertrauensverhältnisses der Parteien rechnen musste.
Insoweit gilt der allgemeine Erfahrungssatz, dass anfechtbare Äußerungen über Vorgesetzte, sofern sie im Kollegenkreis erfolgen, in der sicheren Erwartung geschehen, dass sie nicht über den Kreis der Gesprächsteilnehmer hinausdringen werden.
Für eine vorherige Abmahnung spricht es auch, wenn der Arbeitnehmer die beleidigenden Äußerungen in einem emotionalen Zustand getätigt hat (hier: weil er am Vortag nach einem hitzigen Gespräch aus dem Zimmer seines Vorgesetzten geworfen wurde).

(2.) Das Verhalten dritter Personen ist als Grund für den Auflösungsantrag des Arbeitgebers nur dann geeignet, wenn der Arbeitnehmer dieses Verhalten durch eigenes Tun entscheidend veranlasst hat und es ihm so zuzurechnen ist.

Hier: Dem klagenden Arbeitnehmer ist nicht anzulasten, dass seine Arbeitskollegen als "Petzen" beschimpft werden, weil diese die Äußerungen des Klägers weitergegeben haben.

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 8. November 2013, Az. 4 Ca 1427/13, wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Der Auflösungsantrag der Beklagten wird abgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung vom 19.07.2013 und einen Auflösungsantrag der Beklagten.

Der 1962 geborene, verheiratete Kläger ist seit 18.06.2012 bei der Beklagten als Chemikant zu einem Bruttomonatsentgelt von ca. € 2.500,- beschäftigt. Er wurde zunächst befristet für zwei Jahre eingestellt, seit dem 01.06.2013 ist sein Arbeitsverhältnis unbefristet. Zuvor war er vom 03.05. bis 20.10.2010 und vom 01.04.2011 bis 15.06.2012 als Leiharbeitnehmer bei der Beklagten eingesetzt. Die Beklagte beschäftigt ca. 550 Arbeitnehmer, es besteht ein Betriebsrat.

Am 09.07.2013 führte der Produktionsleiter K. mit dem Kläger ein Personalgespräch in seinem Büro. Der Kläger hatte sich geweigert, eine neue Stellenbeschreibung zu unterschreiben, weil er ua. die Eingruppierung in Entgeltgruppe E4 als ungerecht empfand. Der Ablauf des eskalierenden Gesprächs wird von den Parteien unterschiedlich geschildert. Es wurde vom Vorgesetzten dadurch beendet, dass er die Tür öffnete und den Kläger mit der Aufforderung "Raus hier!" seines Büros verwies.

Am 10.07.2013 gegen 12:45 Uhr hielt sich der Kläger im Rauchercontainer auf. Ebenfalls anwesend waren die Arbeitskollegen G. und K. sowie ein Leiharbeitnehmer. Der Kläger schimpfte in diesem Kreis über seinen Vorgesetzten. Er räumt ein, dass er geäußert hat: "Der ist irre, der dürfte nicht frei rumlaufen", "der ist nicht normal". Als der Vorgesetzte am Rauchercontainer vorbeilief, äußerte er: "Da läuft er ja, der Psycho", "der wird schon sehen, was er davon hat".

Nach dem Vorbringen der Beklagten soll der Kläger geäußert haben: "Da läuft ja der Psychopath", "der ist nicht richtig im Kopf", "der gehört in die Psychiatrie, weil er psychisch krank ist", "der gehört eingesperrt". Außerdem soll er seinen Vorgesetzten als "Arschloch" bezeichnet und gedroht haben: "Der wird sich noch wundern, ich lasse mich nicht einfach aus dem Büro werfen", "der wird schon noch sehen, was er davon hat".

Die Arbeitskollegen meldeten den Vorfall dem Vorgesetzten. Am 11.07.2013 führte der Personalleiter mit dem Kläger deshalb ein Gespräch, an dem auch der Vorgesetzte und drei Mitglieder des Betriebsrats teilnahmen. Der Kläger bestritt zunächst die Äußerungen vom Vortag und nannte sie eine "glatte Lüge". Nach einem Vier-Augen-Gespräch mit einem Betriebsratsmitglied räumte er ein, dass er sehr aufgewühlt gewesen sei, es könne sein, dass er das alles gesagt habe, dafür entschuldige er sich.

Mit Schreiben vom 15.07.2013 hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer beabsichtigten fristlosen, hilfsweise fristgemäßen Kündigung an. Der Betriebsrat widersprach mit Schreiben vom 18.07.2013 und regte an, den Kläger in eine andere Abteilung zu versetzen, um die Konfliktsituation aufzuheben.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 19.07.2013 wegen gravierender ehrverletzender Äußerungen des Klägers über seinen Vorgesetzten und ausgestoßener Drohungen fristlos, hilfsweise ordentlich zum 02.08.2013. Gegen diese Kündigung wehrt sich der Kläger mit seiner am 25.07.2013 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage.

Von einer weitergehenden Darstellung des unstreitigen Tatbestands und des erstinstanzlichen Parteivorbringens wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG abgesehen und auf den Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 08.11.2013 (dort Seite 2 bis 7) Bezug genommen.

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,

festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis weder durch die fristlose Kündigung vom 19.07.2013 noch durch die hilfsweise ordentliche Kündigung zum 02.08.2014 aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme der Klage stattgegeben und zur Begründung - zusammengefasst - ausgeführt, die Kündigung der Beklagten vom 19.07.2013 habe das Arbeitsverhältnis weder außerordentlich noch ordentlich aufgelöst. Grobe Beleidigungen des Vorgesetzten, die nach Form und Inhalt eine erhebliche Ehrverletzung für den Betroffenen bedeuten, stellten "an sich" einen die fristlose Kündigung rechtfertigenden Grund dar. Der Kläger habe sich über seinen Vorgesetzten im Rauchercontainer in ehrverletzender Art und Weise geäußert. Sein Verhalten stelle eine objektiv schwerwiegende, das Vertrauensverhältnis erheblich belastende Pflichtverletzung dar. Als Reaktion der Beklagten auf die Äußerungen des Klägers am 10.07.2013 hätte jedoch aufgrund der besonderen Situation eine Abmahnung genügt.

Der Vorgesetzte habe mit dem Kläger am 09.07.2013 ein Konfliktgespräch geführt. Zum Abschluss habe er ihn - für andere Mitarbeiter wahrnehmbar - mit der Aufforderung "Raus hier!" angeschrien. Auch wenn der Kläger seinen Beitrag zur Eskalation des Gesprächs geleistet habe, sei für die Kammer entscheidend, dass es in einer für den Kläger "höchst demütigenden Situation" geendet habe. Der Kläger habe am 10.07.2013 und damit noch unter dem unmittelbaren Eindruck des Rauswurfs seiner Empörung über den Vorgesetzten im Rauchercontainer Luft gemacht. Der Rauchercontainer sei ein abgegrenzter Raum, so dass Äußerungen nicht für einen unüberschaubaren Personenkreis unmittelbar öffentlich seien. Naturgemäß kämen Mitarbeiter beim gemeinsamen Rauchen über private oder betriebliche Angelegenheiten ins Gespräch. In dieser Situation habe sich der Kläger von seiner Empörung hinreißen lassen und sei in erheblich beleidigender Form über seinen Vorgesetzten hergezogen. Aufgrund dieser Umstände des Einzelfalls sei davon auszugehen, dass das künftige Verhalten des Klägers durch eine Abmahnung positiv beeinflusst werden könne. Wegen weiterer Einzelheiten der Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts wird gem. § 69 Abs. 2 ArbGG auf Seite 8 bis 17 des erstinstanzlichen Urteils vom 08.11.2013 Bezug genommen.

Gegen das am 23.01.2014 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit am 27.01.2014 beim Landesarbeitsgericht eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese innerhalb der bis zum 14.04.2014 verlängerten Begründungfrist mit am 14.04.2014 eingegangenem Schriftsatz begründet.

Die Beklagte macht zur Begründung der Berufung geltend, das Arbeitsgericht habe die Schmähung des Vorgesetzten auf wenige unstreitige Punkte verkürzt, die nicht geeignet seien, die Tragweite der Äußerungen des Klägers im Hinblick auf die vorzunehmende Interessenabwägung erschöpfend wiederzugeben. Durch das Gesamtbild der Äußerungen stelle sich das Fehlverhalten als deutlich gravierender dar. Das Arbeitsgericht habe über die Äußerungen des Klägers im Rauchercontainer keinen Beweis erhoben. Die unstreitige Bemerkung des Klägers: "Er wird schon sehen, was er davon hat", könne nicht als Ankündigung einer Beschwerde ausgelegt werden, vielmehr sei die Äußerung klar als Bedrohung zu werten. Das Arbeitsgericht gehe zu Unrecht davon aus, dass der angenommene Auslöser - das Gespräch vom Vortag - jegliche beleidigende Äußerungen rechtfertigen könne. Das Verhalten des Klägers im Gespräch vom 09.07.2013 sei extrem unhöflich und provozierend gewesen. Zudem sei dieses Gespräch nicht geeignet, das Verhalten des Klägers am 10.07.2013 zu entschuldigen. Das Gespräch im Rauchercontainer sei nicht vertraulich gewesen. Der Kläger habe kein schutzwürdiges Vertrauen darauf gehabt, dass die Arbeitskollegen den Vorgesetzten nicht informieren. Sie seien weder mit dem Kläger befreundet noch engere Kollegen. Der Leiharbeitnehmer sei betriebsfremd. Der Kläger habe nicht mehr unter dem unmittelbaren Eindruck des Rauswurfs vom Vortag gestanden, er habe vielmehr über den Vorfall eine Nacht schlafen können und Gelegenheit gehabt, Abstand zu gewinnen. In die Interessenabwägung sei auch das Verhalten des Klägers im Personalgespräch vom 11.07.2013 mit einzubeziehen. Der Kläger habe sich nicht sofort entschuldigt, sondern zunächst alles abgestritten und die Arbeitskollegen als Lügner bezeichnet. Erst nach einem Vier-Augen-Gespräch mit einem Betriebsratsmitglied habe er sein Verhalten eingeräumt und sich entschuldigt. Das Fehlverhalten des Klägers habe auch dadurch ein erhebliches Gewicht.

Zur Begründung ihres Auflösungsantrags führt die Beklagte aus, der Kläger habe jeglichen Respekt vor seinem Vorgesetzten verloren, weil er ihn als "Psychopathen" und "Arschloch" bezeichnet habe. Im Übrigen sei der Betriebsfrieden dadurch massiv gestört, dass ein Teil der Belegschaft die Arbeitskollegen, die den Vorfall gemeldet haben, als "Petzen" bezeichneten, während der andere Teil mit ihnen sympathisiere. Es komme hinzu, dass der Kläger in dem Personalgespräch vom 11.07.2013 die Arbeitskollegen zunächst als "Lügner" bezeichnet und erst nach dem Vier-Augen-Gespräch mit einem Betriebsratsmitglied den Vorfall im Rauchercontainer bestätigt habe. Außerdem habe der Kläger den Betriebsratsvorsitzenden Ende Februar 2014 am Telefon beleidigt, weil er wegen eines dem Wahlvorstand nicht zugestellten Einschreibens geäußert habe: "Ihr seid zu blöd, die Post zu sortieren".

Die Beklagte beantragt zweitinstanzlich,

das Urteil des Arbeitsgerichts Ludwigshafen vom 08.11.2013, Az. 4 Ca 1427/13, abzuändern und die Klage abzuweisen,

hilfsweise, das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien zum 02.08.2013 gegen Zahlung einer Abfindung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die jedoch den Betrag von € 3.000,- nicht überschreiten sollte, aufzulösen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

den Hilfsantrag abzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe seiner Berufungserwiderung als zutreffend. Ein wichtiger Grund für die fristlose Kündigung liege nicht vor, die hilfsweise ordentliche Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Das Personalgespräch vom 09.07.2013 sei aus den Fugen geraten. Sein Vorgesetzter habe ihn angebrüllt und aus dem Büro geworfen. Nie zuvor habe er sich so sehr gedemütigt gefühlt. Unter diesem Eindruck habe er die Äußerungen am 10.07.2013 im Rauchercontainer getätigt. Er sei davon ausgegangen, dass sie seinem Vorgesetzten nicht zur Kenntnis gelangen.

Zum Auflösungsantrag trägt der Kläger vor, der Betriebsfrieden sei durch sein Verhalten am 10.07.2013 nicht gestört worden. Wenn dem so sein sollte, sei diese Störung nicht ihm anzulasten. Das Personalgespräch vom 11.07.2013 habe vor Ausspruch der Kündigung stattgefunden. Er habe sich bei seinem Vorgesetzten entschuldigt, so dass er in dieser Abteilung auch weiterarbeiten könne. Das von der Beklagten geschilderte Telefonat mit dem Betriebsratsvorsitzenden habe sich anders abgespielt. Er habe beim Wahlvorstand angerufen, weil er ein Einschreiben verschickt habe, das nicht zugegangen sei. Er sei mit dem Betriebsratsvorsitzenden verbunden worden, der erklärt habe: "Wenn du behauptest, wir sind zu blöd, die Post zu sortieren." Daraufhin habe er erwidert: "K., sei vorsichtig, was du da äußerst, das habe ich so nicht gesagt". Er habe ihm auch gesagt, dass er "vorsichtig sein soll", weil sein Neffe über Lautsprecher das Gespräch mithöre.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den Inhalt der Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.  Die nach § 64 Abs. 1 und 2 Buchst. c ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist gem. §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG iVm. §§ 519, 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und inhaltlich ausreichend begründet worden. Sie erweist sich auch sonst als zulässig.

II.  Die Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 19.07.2013 aufgelöst worden ist. Auch die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung zum 02.08.2013 ist unwirksam. Der zweitinstanzlich gestellte Auflösungsantrag der Beklagten ist unbegründet.

Die Berufungskammer folgt der ausführlichen und sorgfältigen Begründung des angefochtenen Urteils und stellt dies gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG fest. Das Berufungsvorbringen der Beklagten veranlasst lediglich folgende Ausführungen:

1.         Die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 19.07.2013 ist nicht aus einem wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB gerechtfertigt.

a)        Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei ist zunächst zu untersuchen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“ und damit typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht (vgl. BAG 29.08.2013 - 2 AZR 273/12 - Rn. 19, NZA 2014, 533).

Einen in diesem Sinne die fristlose Kündigung „an sich“ rechtfertigenden Grund stellen ua. grobe Beleidigungen des Vorgesetzten dar, die nach Form und Inhalt eine erhebliche Ehrverletzung für den Betroffenen bedeuten. Zwar dürfen Arbeitnehmer Kritik am Arbeitgeber, ihren Vorgesetzten und den betrieblichen Verhältnissen üben und sich dabei auch überspitzt äußern. In grobem Maße unsachliche Angriffe, die zur Untergrabung der Position eines Vorgesetzten führen können, muss der Arbeitgeber aber nicht hinnehmen (vgl. unter vielen: BAG 27.09.2012 - 2 AZR 646/11 - Rn. 22 mwN, AP BGB § 626 Nr. 240). Dabei ist die strafrechtliche Beurteilung kündigungsrechtlich nicht ausschlaggebend. Auch eine einmalige Ehrverletzung ist kündigungsrelevant und umso schwerwiegender, je unverhältnismäßiger und je überlegter sie erfolgte (vgl. BAG 17.02.2000 - 2 AZR 927/98 - Juris).

b)        Von diesen Grundsätzen ist das Arbeitsgericht ausgegangen. Es hat zutreffend erkannt, dass die Äußerungen des Klägers am 10.07.2013 im Rauchercontainer "an sich" einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung darstellen. Es können überhaupt keine vernünftigen Zweifel daran bestehen, dass der Kläger seinen Vorgesetzten am 10.07.2013 im Rauchercontainer erheblich beleidigt und diffamiert hat. Der Kläger hat seinen Vorgesetzten als "Psychopathen" beschimpft und in seiner Hasstirade behauptet: "Der ist irre, der dürfte nicht frei rumlaufen", "der ist nicht normal". Dieser verbale Ausbruch war selbst im Hinblick auf den aus Sicht des Klägers maßgeblichen Ausgangspunkt - den demütigenden Rauswurf vom Vortag - völlig unverhältnismäßig und überzogen. Auch mit der Drohung: "Der wird sich noch wundern, ich lasse mich nicht einfach aus dem Büro werfen", "der wird schon noch sehen, was er davon hat", hat der Kläger in grober, drastischer und damit völlig unangebrachter Weise seine Missachtung des Vorgesetzten zum Ausdruck gebracht hat. Ob er seinen Vorgesetzten auch noch als "Arschloch" beschimpft hat, kann dahinstehen.

c)        Trotz dieser groben Beleidigung ist die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 19.07.2013 nach den Umständen des vorliegenden Falls wegen des Fehlens einer Abmahnung unverhältnismäßig. Die Berufungskammer stellt ausdrücklich klar, dass die erhebliche Ehrverletzung des Vorgesetzten vom 10.07.2013 von der Beklagten nicht sanktionslos hingenommen werden muss. Lediglich bei der Prüfung der Frage, ob die Kündigung als einzig mögliche und vertretbare Reaktion der Beklagten auf den respektlosen Ausbruch des Klägers angemessen war, ist die Berufungskammer - wie das Arbeitsgericht - der Ansicht, dass eine Abmahnung als Reaktion genügt hätte.

Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Als mildere Mittel gegenüber der außerordentlichen Kündigung sind neben der ordentlichen Kündigung auch Abmahnung und Versetzung anzusehen. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck - die Vermeidung künftiger Störungen - zu erreichen. Einer Abmahnung bedarf es demnach nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für den Arbeitnehmer erkennbar - ausgeschlossen ist (vgl. BAG 27.09.2012 - 2 AZR 646/11 - Rn. 42 mwN, aaO).

Die Berufungskammer teilt die Auffassung des Arbeitsgerichts, dass der Kläger darauf vertrauen durfte, dass sein verbaler Ausbruch vom 10.07.2013 von den Arbeitskollegen, die sich mit ihm im Rauchercontainer aufhielten, nicht nach außen getragen und der Betriebsfrieden nicht gestört bzw. das Vertrauensverhältnis der Parteien nicht beschädigt wird. Entgegen der Ansicht der Berufung musste der Kläger nicht mit einer Weitertragung seiner Äußerungen durch seine Arbeitskollegen rechnen, denn es gilt der allgemeine Erfahrungssatz, dass anfechtbare Äußerungen über Vorgesetzte, sofern sie im Kollegenkreis erfolgen, in der sicheren Erwartung geschehen, dass sie nicht über den Kreis der Gesprächsteilnehmer hinausdringen werden (vgl. BAG 10.12.2009 - 2 AZR 534/08 - Rn. 23 mwN, AP BGB § 626 Nr. 226).

Hinzu kommt, dass sich der Kläger zu den beleidigenden Äußerungen hat hinreißen lassen, weil er am Vortag von seinem Vorgesetzten aus dem Büro geworfen worden ist. Diesen Rauswurf hat er als höchst demütigend empfunden. Vor diesem Hintergrund erscheint seine inadäquate emotionale Reaktion - wie bereits das Arbeitsgericht ausgeführt hat - wenn auch hierdurch nicht entschuldigt, so doch in einem milderen Licht.

Unter diesen Umständen war vor Ausspruch einer auf die erhobenen Vorwürfe gestützten Kündigung eine Abmahnung des Klägers nicht entbehrlich. Weder gibt es Anhaltspunkte für die Annahme, eine Abmahnung hätte eine Änderung im Verhalten des Klägers in der Zukunft nicht bewirken können, noch wiegt dessen Pflichtverletzung so schwer, dass selbst ihre einmalige Hinnahme der Beklagten objektiv unzumutbar wäre.

Erweist sich die Kündigung wegen Fehlens einer Abmahnung als unverhältnismäßig, kann offenbleiben, ob die Beklagte vorrangig auch eine Versetzung des Klägers hätte in Betracht ziehen müssen, was der Betriebsrat in seiner Stellungnahme vom 18.07.2013 angeregt hat.

2.         Die hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung der Beklagten vom 19.07. zum 02.08.2013 ist nicht iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch Gründe im Verhalten des Klägers sozial gerechtfertigt. Sie ist auf denselben Lebenssachverhalt gestützt wie die außerordentliche Kündigung. Der Beklagten war es aus den dargelegten Gründen zuzumuten, den Kläger weiterzubeschäftigen und auf das mildere Mittel der Abmahnung zurückzugreifen

3.         Der in der mündlichen Verhandlung vom 24.07.2014 gestellte Auflösungsantrag der Beklagten ist unbegründet. Zwar ist die Beklagte wegen des vorsorglichen Ausspruchs der ordentlichen Kündigung vom 19.07. zum 02.08.2013 trotz § 13 Abs. 1 Satz 3 KSchG nicht von vornherein gehindert, die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG zu beantragen. Auflösungsgründe liegen aber nicht vor.

a)        Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG hat das Gericht nach - wie im Streitfall - erfolgreicher Kündigungsschutzklage auf Antrag des Arbeitgebers das Arbeitsverhältnis aufzulösen, wenn Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen. Das Kündigungsschutzgesetz lässt die Auflösung des Arbeitsverhältnisses bei Sozialwidrigkeit der Kündigung nur ausnahmsweise zu. Es ist nach seiner Konzeption ein Bestandsschutz- und kein Abfindungsgesetz. An die Auflösungsgründe sind deshalb strenge Anforderungen zu stellen. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist derjenige der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht. Von diesem Standpunkt aus ist zu fragen, ob in der Zukunft eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zu erwarten ist.

Auflösungsgründe iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG können solche Umstände sein, die das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, die Wertung seiner Persönlichkeit, seiner Leistung oder seiner Eignung für die ihm gestellten Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen. Die Gründe, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern nicht erwarten lassen, müssen nicht im Verhalten, insbesondere nicht im schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers liegen. Entscheidend ist, ob die objektive Lage die Besorgnis rechtfertigt, dass die weitere gedeihliche Zusammenarbeit gefährdet ist. In diesem Sinne als Auflösungsgrund geeignet sind etwa Beleidigungen, sonstige ehrverletzende Äußerungen oder persönliche Angriffe des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, Vorgesetzte oder Kollegen (vgl. BAG 24.03.2011 - 2 AZR 674/09 - Rn. 19-22 mwN, AP KSchG 1969 § 9 Nr. 67).

b)        Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die Auflösung des Arbeitsverhältnisses vorliegend nicht gerechtfertigt.

Die ehrenrührigen Äußerungen des Klägers über seinen Vorgesetzten am 10.07.2013 im Rauchercontainer sind nicht geeignet, die Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen. Zwar kann sich der Arbeitgeber zur Begründung seines Auflösungsantrags auch auf solche Umstände berufen, die er zuvor - erfolglos - der ausgesprochenen Kündigung zugrunde gelegt hat. Hierfür muss er aber nachvollziehbar darlegen, dass der fragliche Sachverhalt, obwohl er die Kündigung nicht zu rechtfertigen vermochte, dennoch so beschaffen ist, dass er eine gedeihliche weitere Zusammenarbeit der Parteien nicht erwarten lässt (vgl. BAG 10.12.2009 - 2 AZR 534/08 - Rn. 34 mwN, AP BGB § 626 Nr. 226). Derartige Tatsachen liegen nicht vor. Die Störungen des Vertrauensverhältnisses oder des Betriebsfriedens, soweit sie durch den verbalen Ausbruch des Klägers am 10.07.2013 im Rauchercontainer eingetreten sind, können nicht zur Rechtfertigung des Auflösungsantrags dienen. Das widerspräche der kündigungsrechtlichen Wertung, dass eine Abmahnung als Reaktion ausgereicht hätte.

Auch das Verhalten des Klägers im späteren Personalgespräch vom 11.07.2013 ist nicht geeignet, die Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu begründen. Der Kläger hat die Darstellungen seiner Arbeitskollegen zunächst als "glatte Lüge" bezeichnet und erst nach einem Vier-Augen-Gespräch mit einem Betriebsratsmitglied die Beleidigungen vom 10.07.2013 im Rauchercontainer eingeräumt und sich beim Vorgesetzten entschuldigt. Es ist nicht zu erkennen, inwieweit allein das anfängliche Bestreiten des Klägers einer gedeihlichen Zusammenarbeit entgegenstehen sollte. Zum anderen hat die Beklagte nicht dargelegt, dass den beiden Arbeitskollegen, die Erklärungen des Klägers im späteren Personalgespräch vom 11.07.2013 überhaupt bekannt geworden sind.

Als Grund für den Auflösungsantrag genügt auch nicht, dass die zwei Arbeitskollegen, die den Wutausbruch des Klägers vom 10.07.2013 dem Vorgesetzten gemeldet haben, von Teilen der Belegschaft als "Petzen" bezeichnet werden. Das Verhalten dritter Personen ist als Grund für den Auflösungsantrag des Arbeitgebers nur dann geeignet, wenn der Arbeitnehmer dieses Verhalten durch eigenes Tun entscheidend veranlasst hat und es ihm so zuzurechnen ist (vgl. BAG vom 14.05.1987 - 2 AZR 294/86 - AP KSchG 1969 § 9 Nr. 18). Zwar war die Hasstirade des Klägers am 10.07.2013 im Rauchercontainer auslösender Faktor dafür, dass die zwei Arbeitskollegen den Vorgesetzten informierten. Dem Kläger ist jedoch nicht anzulasten, dass sie deswegen als "Petzen" beschimpft werden. Störungen des Betriebsfriedens, die durch die Weitergabe der Äußerungen des Klägers im Rauchercontainer eingetreten sind, können nicht zur Rechtfertigung des Auflösungsantrags dienen (vgl. BAG 10.12.2009 - 2 AZR 534/08 - Rn. 35, aaO).

Soweit die Beklagte auf den Inhalt des Telefongesprächs abhebt, dass der Kläger im Februar 2014 mit dem Betriebsratsvorsitzenden geführt hat, rechtfertigt die Äußerung des Klägers: "Seid ihr zu blöd, die Post zu sortieren" - unterstellt sie sei so gefallen, was der Kläger bestreitet - nicht die Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Eine überzogene und ausfällige Kritik am Betriebsrat oder am Wahlvorstand, dem ein Einschreiben des Klägers nicht zugegangen sein soll, macht die Erklärung noch nicht zur Schmähung. Eine herabsetzende Äußerung nimmt vielmehr erst dann den Charakter der Schmähung an, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (vgl. BAG 29.08.2013 - 2 AZR 419/12 - Rn. 36 mwN, NZA 2014, 660). Vorliegend stand erkennbar die Auseinandersetzung in der Sache im Vordergrund, weil der Kläger den Nichteingang seines Einschreibens beim Wahlvorstand kritisierte. Die Betriebsratswahl ist abgeschlossen. Deshalb ist künftig nicht mit gleichen oder ähnlichen Äußerungen zu rechnen.

III.  Die Beklagte hat gem. § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der erfolglosen Berufung zu tragen.

Ein Grund, der nach den hierfür maßgeblichen gesetzlichen Kriterien des § 72 Abs. 2 ArbGG die Zulassung der Revision rechtfertigen könnte, besteht nicht.



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