Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz

Urteil vom - Az: 3 Sa 505/11

Kündigung wegen langanhaltender Krankheit; betriebliches Eingliederungsmanagement; Verwirkung des Sonderkündigungsschutzes

Wird eine schwerbehinderte Person wegen langanhaltender Krankheit gekündigt, so hängt die Wirksamkeit der Kündigung nicht notwendigerweise von der vorherigen Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements ab. Die unterlassene Durchführung steht einer Kündigung nur dann entgegen, wenn dadurch die Kündigung hätte verhindert werden können.
Setzt ein schwerbehinderter Arbeitnehmer den Arbeitgeber nicht binnen 3 Wochen nach Erhalt der Kündigung über die eigene Schwerbehinderung in Kenntnis, so verwirkt er das Recht auf Sonderkündigungsschutz (§§85 ff. SGB IX).
(Redaktionelle Orientierungssätze)

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 21.07.2011 - 9 Ca 1297/10 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand


Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung.

Die Beklagte fertigt medizinische (Einweg-)Produkte (z.B. Absaugschläuche) für den Einsatz in Krankenhäusern, Sanitätshäusern, Apotheken und im Homecare-Bereich. Hierzu werden Einzelkomponenten aus thermoplastischen Kunststoffen in Spritzguss- und Extrusionsverfahren hergestellt. Die so gefertigten Komponenten werden zum eigentlichen Endprodukt (Medizinprodukt) konfektioniert, verpackt und sterilisiert. Die Beklagte beschäftigt in der Regel 16 bis 18 Arbeitnehmer.

Die am 11. Februar 1953 geborene, verheiratete Klägerin war bei der Beklagten aufgrund Arbeitsvertrags vom 28. Februar/5. März 2001 (Bl. 8, 9 d.A.) seit 6. März 2001 als Arbeiterin (Produktionshelferin) beschäftigt; wegen der Einzelheiten der vereinbarten Arbeitsbedingungen wird auf den Arbeitsvertrag vom 28. Februar 2001/5. März 2001 (Bl. 8, 9 d.A.) Bezug genommen.

Die Klägerin war im Jahr 2001 an 13 Arbeitstagen, im Jahr 2003 an 20 Arbeitstagen, im Jahr 2004 an 3 Arbeitstagen, im Jahr 2005 an 70 Arbeitstagen und im Jahr 2008 an 34 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt; wegen der einzelnen Zeiträume der aufgetretenen Fehlzeiten wird auf den Schriftsatz der Beklagten vom 26. August 2010 (S. 1 und 2 = Bl. 19, 20 d.A.) verwiesen. Seit dem 20. April 2009 ist die Klägerin durchgehend arbeitsunfähig erkrankt.

Die Klägerin leitet bzw. litt in der Vergangenheit an unterschiedlichen Krankheitsbildern. Im Jahr 2005 wurde sie am rechten Handgelenk operiert. Im Jahr 2008 erkrankte sie erneut am rechten Handgelenk und am Knie, weswegen sie im Jahr 2009 jeweils operiert wurde. Während einer zu Beginn des Jahres 2010 durchgeführten Reha-Maßnahme wurde eine Brustkrebserkrankung diagnostiziert, wegen der am 5. April 2010 eine Operation erfolgte. In der Folgezeit wurde bis Mitte Oktober 2010 eine Chemotherapie durchgeführt; ab November 2010 erhält die Klägerin Bestrahlungen.

Mit Rentenbescheid vom 24. Juni 2010 (Bl. 42 d.A.) wurde der Klägerin auf ihren Antrag vom 20. Januar 2010 rückwirkend ab 1. Januar 2010 eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit bis zum 31. Dezember 2011 bewilligt, die inzwischen befristet bis zum 31. Dezember 2013 verlängert worden ist.

Mit Schreiben vom 28. Juli 2010 (Bl. 7 d.A.), der Klägerin am gleichen Tag zugegangen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Klägerin zum 31. Oktober 2010. Hiergegen hat die Klägerin die vorliegende Kündigungsschutzklage erhoben, die am 5. August 2010 beim Arbeitsgericht Koblenz eingegangen ist.

Nach dem ihr am 18. August 2010 ausgestellten Schwerbehindertenausweis, der ab 7. Juni 2010 gültig ist, ist die Klägerin als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 100 anerkannt (Bl. 43, 44 d.A.). Vor Ausspruch der Kündigung hatte die Klägerin die Beklagte nicht darauf hingewiesen, dass sie einen Antrag auf Feststellung ihrer Schwerbehinderteneigenschaft gestellt hatte. Erstmals mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2010 hat die Klägerin der Beklagten mitgeteilt, dass sie gemäß dem ihr erteilten Schwerbehindertenausweis schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100 sei.

Die Klägerin hat erstinstanzlich vorgetragen, aus den in der Vergangenheit aufgetretenen krankheitsbedingten Fehlzeiten könne eine negative Prognose nicht hergeleitet werden. Sämtliche Krankheitsbilder seien inzwischen ausgeheilt. Ausweislich des von ihr vorgelegten ärztlichen Attestes vom 21. Dezember 2010 (Bl. 71 d.A.) zeige sich ihr rechtes Kniegelenk komplett unauffällig. Sie sei beschwerdefrei und könne das Knie voll belasten. Auch die Arthrose des rechten Handgelenkes sei nicht weiter fortgeschritten und führe gemäß dem vorgelegten Attest vom 3. Februar 2011 (Bl. 79 d.A.) nicht zu einer Einschränkung ihrer Arbeitsfähigkeit. Es sei falsch, dass sie an einem "grauen Star" leide (ärztliches Attest vom 9. November 2010, Bl. 80 d.A.). Ihre seit dem 20. April 2009 bestehende krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit lasse sich überwiegend auf die Krebserkrankung zurückführen, die jedoch einer positiven Zukunftsprognose unterliege. Es sei nach derzeitigem Sachstand davon auszugehen, dass sie bis zum 31. Dezember 2011 wieder vollständig arbeitsfähig sei. Aufgrund der Erkrankung lasse sich nicht verlässlich ableiten, dass sie in Zukunft in erheblichem Maß krankheitsbedingt ausfallen werde. Sie sei sehr wohl in der Lage, die Tätigkeit an der Verpackungsmaschine im Stehen auszuführen. Es werde bestritten, dass die jeweiligen Aluminiumkisten etwa 10 Kilo wiegen würden. In den Kisten befänden sich ungefähr 100 Absaugschläuche bei einem Durchmesser von 25 mm. Problematisch werde das Heben der Kiste über Brusthöhe, um eine entsprechende Palette zu packen. Diese Tätigkeit sei unter Arbeitsschutzbedingungen zu sehen. Sie sei vollumfänglich für das Verpacken von weichen Schlauchprodukten einsatzfähig. Auch in der Vergangenheit habe sie Schlauchprodukte gewickelt und in Tüten verpackt, wobei es sich um eine sitzende Tätigkeit handele. Da die Maschine zu 90 % mit Schlauchprodukten bestückt werde, sei sie in der Lage, die Tätigkeit auszuführen. Weiterhin könne sie an den Handarbeitsplätzen vollschichtig eingesetzt werden, und zwar unabhängig davon, ob Produkte gesteckt, montiert oder gewickelt werden müssten. Sie sei in der Lage, den Schlauch in einer üblichen und angemessenen Zeit zu wickeln. Aufgrund der bestehenden Sehkraft könne sie auch die Montage vornehmen. In Bezug auf den Bereich der Endverpackung gelte das gleiche wie für die Verpackungsmaschine. Richtig sei allerdings, dass sie im Lagerbereich - unstreitig - nicht einsatzfähig sei. Eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen liege nicht vor. Die Beklagte könne ihr einen angemessenen Arbeitsplatz im Produktionsbereich anbieten, auf dem keine weiteren Entgeltfortzahlungen zu erwarten seien. Arbeitsmedizinische Überprüfungen für ihren Einsatz als Produktionshelferin seien nie durchgeführt worden. Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass ein Eingliederungsmanagement nicht stattgefunden habe. Im Übrigen sei die Kündigung mangels Zustimmung des Integrationsamtes gemäß § 85 SGB IX unwirksam.

Die Klägerin hat beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 28. Juli 2010, zugegangen am 28. Juli 2010, nicht aufgelöst worden ist,
die Beklagte zu verurteilen, sie zu den bisherigen Bedingungen als Produktionshelferin über den Ablauf der Kündigungsfrist hi-naus weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie hat erwidert, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt, weil die Klägerin dauerhaft arbeitsunfähig sei und die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung deshalb nicht mehr erbringen könne. Im Übrigen sei nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine personenbedingte Kündigung bereits dann sozial gerechtfertigt, wenn bei der Kündigung die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ungewiss sei und die Krankheit bereits über einen längeren Zeitraum angedauert habe. Diese Ungewissheit stehe dann einer feststehenden dauernden Arbeitsunfähigkeit gleich. Diese Voraussetzungen seien in der Person der Klägerin erfüllt. Die Klägerin sei bereits seit dem Beginn des Arbeitsverhältnisses immer wieder aufgrund ihrer Erkrankungen krankgeschrieben worden. Nach ihrer ununterbrochen bestehenden Arbeitsunfähigkeit seit dem 20. April 2009 sei nicht mehr damit zu rechnen, dass sie ihre Arbeitsfähigkeit jemals wieder erlangen werde. Nach dem von der Klägerin vorgetragenen Krankheitsverlauf, insbesondere der Operation wegen Brustkrebs, stehe fest, dass sie zum Zeitpunkt der Kündigung bereits seit längerer Zeit arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei und die Krankheit voraussichtlich für nicht absehbare Zeit andauern werde. Die Klägerin leide weiter an einem grauen Star und an chronischen Erkrankungen der Hand- sowie Kniegelenke. Da es sich bei den Krankheiten um solche mit progredienter Verlaufsform handele, werde die Klägerin einen Zustand der Arbeitsfähigkeit nicht wieder erreichen. Sämtliche bei ihr zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze, die der Qualifikation der Klägerin entsprächen, könne diese aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen nicht mehr ausführen. In Bezug auf die Montage von Absaugschläuchen habe die Klägerin bereits früher mitgeteilt, diese Tätigkeit nicht ausführen zu wollen. Im Übrigen sei die Klägerin zu einer solchen Tätigkeit nicht in der Lage, weil es ihr krankheitsbedingt an der notwendigen Fingerfertigkeit fehle. Die Tätigkeit an der Verpackungsmaschine werde im Stehen ausgeführt. Die Aluminiumkisten, die nach der Befüllung gehoben werden müssten, seien bis zu 14 kg schwer. Die Kisten seien von einer Höhe von 20 cm auf eine Höhe von 50 cm und damit um 30 cm höher zu bringen. Selbstverständlich sei auch diese Tätigkeit unter Arbeitsschutzbedingungen zu sehen, gegen die auch nicht verstoßen werde, weil pro Schicht ca. 20 Kisten umgestapelt werden müssten. Aufgrund ihres krankheitsbedingten körperlichen Zustandes sei die Klägerin dauerhaft nicht dazu in der Lage, diese Tätigkeit an der Verpackungsmaschine auszuführen. Weiterhin sei die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankungen nicht in der Lage, die Tätigkeiten an den Handarbeitsplätzen auszuführen. Insbesondere könne sie aufgrund ihrer eingeschränkten Sehkraft und fehlenden Fingerfertigkeit die Montage der kleinen Teile nicht vornehmen. In der Endverpackung würden die bis ca. 9 kg wiegenden Kartons bis auf eine Höhe von knapp zwei Meter gestapelt. Auch hier sei die Tätigkeit im Stehen unter Inanspruchnahme von Muskelkraft erforderlich, wozu die Klägerin krankheitsbedingt nicht in der Lage sei. Mithin sei sie zu der Feststellung gelangt, dass alternative Beschäftigungsmöglichkeiten für die Klägerin nicht zur Verfügung stünden. Die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements wäre deshalb überflüssig gewesen, weil dies aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin unter keinen Umständen zu einem positiven Ergebnis hätte führen können. Es sei ihr nicht zuzumuten, dass aufgrund der Beeinträchtigungen, an denen die Klägerin leide, Montagefehler entstünden, die die Qualität der Produkte erheblich beeinträchtigen würden. Dabei sei insbesondere zu beachten, dass die Benutzung ihrer Produkte im Einzelfall über den Gesundheitszustand von Patienten entscheide.
Das Arbeitsgericht hat zunächst Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen G.. Hinsichtlich des Ergebnisses der Zeugenvernehmung wird auf das Sitzungsprotokoll vom 3. Februar 2011 verwiesen. Sodann hat das Arbeitsgericht Beweis erhoben durch Einholung eines arbeitsmedizinischen Sachverständigengutachtens. Diesbezüglich wird auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. R. K. vom 23. Mai 2011 (Bl. 98 bis 121 d.A.) Bezug genommen. Mit Urteil vom 21. Juli 2011 - 9 Ca 1297/10 - hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Kündigung aus personenbedingten Gründen sozial gerechtfertigt und auch nicht wegen fehlender Zustimmung des Integrationsamtes rechts-unwirksam sei. Nach den von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts aufgestellten Grundsätzen habe die Klägerin ihr Recht verwirkt, sich nachträglich auf ihre Schwerbehinderung zu berufen und die fehlende Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung gemäß § 85 SGB IX geltend zu machen, weil sie die Beklagte über den von ihr gestellten Antrag auf Feststellung ihrer Schwerbehinderteneigenschaft nicht innerhalb angemessener Frist nach Ausspruch der Kündigung informiert habe. Die Voraussetzungen einer sozial gerechtfertigten Kündigung aus in der Person der Klägerin liegenden Gründen seien vorliegend gegeben. Bezogen auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bestehe eine negative Zukunftsprognose. Nach dem Vortrag beider Parteien kämen als Beschäftigungsmöglichkeiten für die Klägerin im Hinblick auf ihre Qualifikation lediglich fünf Arbeitsplätze im Betrieb der Beklagten in Betracht, nämlich die Montage von Absaugschläuchen, der Einsatz an der Verpackungsmaschine, sog. "Handarbeitsplätze", die Endverpackung und das Lager. Im Bereich des Lagers sei die Klägerin im Hinblick auf ihre Belastbarkeit unstreitig nicht einsetzbar. Im Bereich der Montage von Absaugschläuchen habe die Klägerin nach der Zeugenvernehmung selbst ausgeführt, dass sie wegen der dort verwandten Klebemittel und einer bestehenden Allergie auf diesem Arbeitsplatz nicht eingesetzt werden könne. Die Arbeitsabläufe bei den Arbeitsplätzen Verpackungsmaschine und Endverpackung seien von ihren Belastungen her nach den Bekundungen des Zeugen G. im Wesentlichen gleich. Es handele sich jeweils um eine vollschichtig im Stehen zu erbringende Tätigkeit, die es mit sich bringe, dass Verpackungskisten mit einem Gewicht von bis zu 10 bis 14 Kilo anzuheben und zu stapeln seien. Im Bereich der sog. Handarbeitsplätze seien nach den Bekundungen des Zeugen G. zu 85 % wiederum Bauteile zu konfektionieren, bei denen das Lösungsmittel verwandt werde, welches auch am Arbeitsplatz der Konfektionierung von Absaugschläuchen verwandt werde, wogegen die Klägerin nach eigenem Vortrag wiederum allergisch reagiere. Der Sachverständige sei zu dem Ergebnis gekommen, dass ein kontinuierlicher Einsatz der Klägerin mit einer wirtschaftlich verwertbaren Arbeitsleistung an den Arbeitsplätzen Verpackungsmaschine, Handarbeitsplätze und Endverpackung nicht möglich sei. Auch prospektiv sei der Sachverständige zu der Einschätzung gelangt, dass die Klägerin allenfalls noch eine Eignung für körperlich leichte Tätigkeiten im Bereich des allgemeinen Arbeitsmarktes besitze. Dabei habe der Sachverständige den Begriff "körperlich leichte Arbeit" dahin definiert, dass dieser allenfalls Gewichte bis 6 kg beinhalte. Das Gutachten sei auch unter Hinzuziehung der die Klägerin behandelnden Ärzte nach Vorgabe des Beweisbeschlusses ausführlich unter Darstellung der durchgeführten Anamnese und Würdigung der beigezogenen Untersuchungsbefunde sowie Durchführung zusätzlicher Untersuchung und Befragung der Klägerin erstellt worden. In Würdigung des Gutachtenergebnisses ergebe sich, dass der Klägerin bei der Beklagten die weitere Erbringung der arbeitsvertragsgemäß geschuldeten Arbeitsleistungen nicht möglich sei. Dass darüber hinaus keine weitergehenden Beschäftigungsmöglichkeiten bei der Beklagten für die Klägerin vorhanden seien, sei nach dem beiderseitigen Vorbringen der Parteien unstreitig und im Übrigen auch angesichts der Größe des Unternehmens der Beklagten, die insgesamt lediglich 16 Arbeitnehmer beschäftige, verständlich. Insoweit sei die Kündigung auch nicht im Hinblick auf die fehlende Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 84 Abs. 2 SGB IX rechtsunwirksam. Die Beklagte habe sämtliche überhaupt im Hinblick auf die Qualifikation der Klägerin in ihrem Unternehmen in Betracht kommenden Arbeitsplätze gewürdigt und im Einzelnen vorgetragen, welche Belastungen hier bestünden und aus welchen Gründen ein Einsatz der Klägerin nicht in Betracht komme, weil dieser die Arbeitsleistung unmöglich sei. Die von der Beklagten dargestellten Belastungen seien nach den Bekundungen des Zeugen G. belegt, dessen Bekundungen glaubhaft seien. Damit stehe fest, dass ein Einsatz der Klägerin auf den qualifikationsbedingt in Betracht kommenden Arbeitsplätzen bei der Beklagten nicht möglich sei. Dies führe zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen. Auch im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung überwiege das Interesse der Beklagten an einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Vermeidung weiterer Austauschstörungen und im Sinne einer geordneten Personalplanung.

Gegen das ihr am 8. August 2011 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 1. September 2011, beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz am 5. September 2011 eingegangen, Berufung eingelegt und diese innerhalb der antragsgemäß bis zum 8. November 2011 verlängerten Berufungsbegründungsfrist mit Schriftsatz vom 8. November 2011, beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz am gleichen Tag eingegangen, begründet.

Die Klägerin trägt vor, sie habe ihr Recht, die Nichtigkeit der Kündigung nach § 85 SGB IX geltend zu machen, nicht verwirkt. Sie habe Anfang August 2010 die Anwaltskanzlei der Rechtsanwältinnen H., F. und He. in A. aufgesucht. Das erste Gespräch habe noch die junge Rechtsanwältin He. geführt, die ihre Daten aufgenommen und die Kündigung sowie insbesondere den Antrag auf Schwerbehinderung für sich (Handakte) kopiert habe. Die Rechtsanwältin He. habe dann die von der Rechtsanwältin H. unterschriebene Kündigungsschutzklage gefertigt, wobei offensichtlich der Umstand, dass sie vorab einen Antrag auf Schwerbehinderung gestellt habe, in der Klageschrift vergessen worden sei. Sie sei auch nicht darüber belehrt worden, dass sie den Bescheid über die Anerkennung als Schwerbehinderte unverzüglich ihrem Prozessbevollmächtigten vorzulegen habe. Nach dem Ausscheiden der Rechtsanwältin He. aus der Anwaltssozietät sei der Schwerbehindertenantrag von den anderen Anwältinnen in der Handakte nicht beachtet worden. Für die Verwirkung bedeutet dies, dass sie sich zu keinem Zeitpunkt illoyal gegenüber ihrem Arbeitgeber verhalten habe. Sie habe zu keinem Zeitpunkt sich den Umstand zu nutzen machen wollen, dass sie schwerbehindert sei, um die Kündigung der Beklagten zu einem späteren Zeitpunkt zu Fall zu bringen. Weiterhin sei die Kündigung sozial ungerechtfertigt. Die Kündigung sei absolut "ins Blaue hinein" erfolgt. Die der Beklagten zum maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung nicht bekannte Krebserkrankung sei auch nicht mit in die Beurteilung der negativen Prognose aufzunehmen. Nach der Feststellung des Sachverständigen sei mit einer Änderung des Gesundheitszustandes im Januar 2012 zu rechnen, wonach ihr leichte körperliche Arbeiten zuzutrauen seien. Eine negative Prognose sei daher gar nicht möglich. Entgegen der vom Arbeitsgericht vorgenommenen Prüfung sei für die negative Gesundheitsprognose in der Regel ein Zeitraum von 24 Monaten einzubeziehen, wobei der Zeitraum Januar 2012 noch innerhalb dieser Frist liege. Sie werde im Januar 2012 in der Lage sein, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen. Die Chemotherapie sei zufriedenstellend verlaufen. Alle Krankheiten seien ausgeheilt. Die bisherige Tätigkeit an der Verpackungsmaschine werde sie mit Einschränkungen ausüben können. Zwar werde sie nicht in der Lage sein, Pakete anzuheben oder zu stapeln, die schwerer als 10 kg seien. Das sei auch nicht notwendig, weil ausreichend andere Mitarbeiter vorhanden seien. Leichtere Verpackungskisten von 6 bis 8 kg könne sie selbst anheben. Eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen bei einem Arbeitsausfall bis zum 31. Dezember 2011 liege nicht vor. Der Beklagten sei es zuzumuten, den Ausfall bis zum 31. Dezember 2011 mit einer Ersatzkraft zu überwinden, um damit betriebliche Beeinträchtigungen zu überbrücken. Das Arbeitsgericht habe zudem die Interessenabwägung einseitig zu ihren Lasten durchgeführt und einer geordneten Personalplanung ein höheres Gewicht als ihrer langen Betriebszugehörigkeit und ihrem Alter beigemessen. Auch wenn betriebliche Umstände für ihre Erkrankung nicht verantwortlich seien, wäre es der Beklagten jedoch zuzumuten, die Mitteilung der behandelnden Ärzte im Dezember 2011 abzuwarten, um dann ihre Entscheidung über die Kündigung zu treffen. Die Beklagte habe nicht vorgetragen, ob der Minderung ihrer Leistungsfähigkeit ab dem 1. Januar 2012 durch organisatorische Maßnahmen (Änderung des Ablaufs, Umgestaltung des Arbeitsplatzes, Umverteilung der Aufgaben) begegnet werden könne. Ob sie wieder in den Betriebsablauf integriert werden könne, lasse sich nicht mehr feststellen, weil das betriebliche Eingliederungsmanagement nicht durchgeführt worden sei. Verbleibende Zweifel gingen zu Lasten der Beklagten.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 21. Juli 2011 - 9 Ca 1297/10 - abzuändern und
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 28. Juli 2010 nicht aufgelöst worden ist,
die Beklagte zu verurteilen, sie zu den bisherigen Bedingungen als Produktionshelferin weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie erwidert, das Arbeitsgericht habe zu Recht angenommen, dass die Klägerin ihr Recht, die Nichtigkeit der Kündigung wegen der fehlenden Zustimmung des Integrationsamtes geltend zu machen, verwirkt habe. Der diesbezügliche Vortrag der Klägerin sei unerheblich, weil der Klägerin das Unterlassen der von ihr beauftragten Rechtsanwältin nach § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet werde. Die Kündigung sei gemäß den zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts aus personenbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Insbesondere sei festgestellt worden, dass die Klägerin an einigen Arbeitsplätzen wegen der dort austretenden Klebstoffgase aufgrund einer bei ihr bestehenden Allergie nicht einsatzfähig sei. Die Kündigung sei nicht "ins Blaue hinein" erfolgt, sondern deshalb, weil die Klägerin auf den möglichen Arbeitsplätzen nicht mehr eingesetzt werden könne. Sie sei der ihr obliegenden Darlegungs- und Beweislast in vollem Umfange nachgekommen. Das Sachverständigengutachten habe ihre Angaben bestätigt, wonach die Klägerin an den von ihr angebotenen Arbeitsplätzen nicht mehr einsatzfähig sei. Nach den Ausführungen des Sachverständigen sei die Klägerin möglicherweise für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu gebrauchen, während eine Tätigkeit in ihrem Unternehmen in jedem Fall auch ab Januar 2012 nicht mehr möglich sei. Auch der Einsatz an der Verpackungsmaschine erfordere eine volle Arbeitskraft, die über die volle körperliche Leistungsfähigkeit verfüge. Einschränkungen seien nicht realisierbar. Entgegen der Behauptung der Klägerin liege eine Beeinträchtigung betrieblicher Interessen sehr wohl vor. Im Hinblick darauf, dass es sich um einen relativ kleinen Betrieb handele, genieße die Planungssicherheit für das Personal eine höhere Priorität als in einem sehr großen Betrieb. Es sei für sie nicht ohne weiteres möglich, ständig damit rechnen zu müssen, dass länger erkrankte Mitarbeiter wieder die Arbeit aufnehmen, und für die Zwischenzeit Personal vorzuhalten. Das Arbeitsgericht sei aufgrund der von ihm vorgenommenen Interessenabwägung zu dem richtigen Ergebnis gelangt, dass ihr Interesse an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses überwiege.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 64 Abs. 1 und 2 Buchst. b und c ArbGG statthafte Berufung der Klägerin ist form- sowie fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. 519, 520 ZPO).

Die auch ansonsten zulässige Berufung hat aber in der Sache keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat zu Recht die Klage abgewiesen.

Die Kündigung vom 28. Juli 2010 ist wirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien zu dem in ihr vorgesehenen Termin (31. Oktober 2010) beendet. Die Beklagte ist daher auch nicht zur Weiterbeschäftigung der Klägerin verpflichtet.

I. Die Klägerin kann sich nicht darauf berufen, dass die Kündigung mangels Zustimmung
des Integrationsamtes nach §§ 85 SGB IX i.V.m. 134 BGB nichtig sei.

Dabei kann zugunsten der Klägerin davon ausgegangen werden, dass ihr im Kündigungszeitpunkt der Sonderkündigungsschutz nach §§ 85, 90 Abs. 2 a SGB IX zustand (zu den Voraussetzungen für das Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes vgl. BAG 09. Juni 2011 - 2 AZR 703/09 - Rn. 18, NZA-RR 2011, 516).

Das Arbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Klägerin jedenfalls ihren besonderen Kündigungsschutz verwirkt hat, weil sie sich gegenüber der Beklagten nicht innerhalb einer angemessenen Frist von drei Wochen nach Zugang der Kündigung vom 28. Juli 2010 auf eine bereits festgestellte oder zur Feststellung beantragte Schwerbehinderteneigenschaft berufen hat.

1. Ist der Arbeitnehmer im Kündigungszeitpunkt bereits als schwerbehinderter Mensch anerkannt, steht ihm der Kündigungsschutz gemäß §§ 85 ff. SGB IX nach dem Wortlaut des Gesetzes auch dann zu, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft oder dem Anerkennungsantrag nichts wusste. Das ergibt sich schon daraus, dass § 85 i.V.m. § 2 SGB IX mit der "Schwerbehinderung" ohnehin auf einen objektiven Grad der Behinderung und nicht auf dessen behördliche Feststellung abstellt. Gleichwohl trifft den Arbeitnehmer bei Unkenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderung bzw. der Antragstellung die Obliegenheit, innerhalb einer angemessenen Frist, die in der Regel drei Wochen beträgt, auf den besonderen Kündigungsschutz hinzuweisen. Dies trägt dem Verwirkungsgedanken (§ 242 BGB) Rechnung und ist aus Gründen des Vertrauensschutzes gerechtfertigt. Der Arbeitgeber, der keine Kenntnis von dem bestehenden oder möglichen Schutztatbestand hat, hat keinen Anlass, eine behördliche Zustimmung zur Kündigung einzuholen. Je nach dem Stand des Verfahrens beim Versorgungsamt ist ihm dies sogar unmöglich. Das Erfordernis, sich zeitnah auf den besonderen Kündigungsschutz zu berufen, ist geeignet, einer Überforderung des Arbeitgebers vorzubeugen. Dieser müsste anderenfalls vor Kündigungen stets vorsorglich einen Antrag auf Zustimmung beim Integrationsamt stellen, damit nicht der besondere Schutztatbestand ggf. erst nach längerer Prozessdauer offenbar wird. Das Erfordernis trägt zugleich dem Gebot der Rechtssicherheit Rechnung (st. Rspr., vgl. zuletzt BAG 09. Juni 2011 - 2 AZR 703/09 - Rn. 21 und 22, NZA-RR 2011, 516). Danach muss sich der Arbeitnehmer, wenn er sich den Sonderkündigungsschutz nach § 85 SGB IX erhalten will, nach Zugang der Kündigung innerhalb einer angemessenen Frist, die drei Wochen beträgt, gegenüber dem Arbeitgeber auf seine bereits festgestellte oder zur Feststellung beantragte Schwerbehinderteneigenschaft berufen. Unterlässt der Arbeitnehmer die entsprechende Mitteilung, so hat er den besonderen Kündigungsschutz verwirkt. Die Drei-Wochen-Frist ist eine Regelfrist, die den Verwirkungstatbestand konkretisiert. Ausreichend ist, wenn der Arbeitnehmer innerhalb der dreiwöchigen Klagefrist des § 4 S. 1 KSchG die Unwirksamkeit der Kündigung nach § 85 SGB IX gerichtlich geltend macht, auch wenn die Zustellung der rechtzeitig eingereichten Klageschrift erst danach erfolgt (BAG 23. Februar 2010 - 2 AZR 659/08 - Rn. 16 und 21, NZA 2011, 411).

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Klägerin den besonderen Kündigungsschutz als schwerbehinderter Mensch jedenfalls verwirkt.

Die Klägerin hat die Beklagte unstreitig nicht innerhalb von drei Wochen nach dem am 28. Juli 2010 erfolgten Zugang der Kündigung auf eine bereits festgestellte oder zur Feststellung beantragte Schwerbehinderteneigenschaft hingewiesen. Ein solcher Hinweis findet sich insbesondere auch nicht in der Klageschrift vom 5. August 2010, die der Beklagten am 11. August 2010 zugestellt worden ist. Entgegen den Ausführungen der Klägerin in der Berufungsbegründung ist unerheblich, dass der Umstand, dass sie vorab einen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt habe, in der Klageschrift offensichtlich vergessen worden sein soll. Ein derartiges Verschulden ihrer damaligen Prozessbevollmächtigten ist der Klägerin nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen (vgl. LAG Schleswig-Holstein 06. Juli 2010 - 1 Sa 403 e/09 - Rn. 32, [juris]; vgl. auch BAG 11. November 2008 - 2 AZR 472/08 - NZA 2009, 692). Danach kann sich die Klägerin mangels rechtzeitiger Geltendmachung einer festgestellten bzw. zur Feststellung beantragten Schwerbehinderteneigenschaft nicht mehr darauf berufen, dass die Kündigung nach §§ 85 SGB IX, 134 BGB nichtig sei.

II. Die Kündigung ist aus Gründen in der Person der Klägerin gemäß § 1 Abs. 2 KSchG
sozial gerechtfertigt.

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG 12. Juli 2007 - 2 AZR 716/06 - Rn. 26 ff., NZA 2008, 173; 19. April 2007 - 2 AZR 239/06 - Rn. 18, NZA 2007, 1041; 12. April 2002 - 2 AZR 148/01 - Rn. 41, NZA 2002, 1081) ist eine auf einer lang anhaltenden Erkrankung beruhende ordentliche Kündigung in drei Stufen zu prüfen:

Danach ist zunächst - erste Stufe - eine negative Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes des erkrankten Arbeitnehmers erforderlich. Es müssen - abgestellt auf den Kündigungszeitpunkt und die bisher ausgeübte Tätigkeit - objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis einer weiteren, längeren Erkrankung rechtfertigen. Steht fest, dass der Arbeitnehmer die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung überhaupt nicht mehr erbringen kann oder ist die Wiederherstellung seiner Arbeitskraft völlig ungewiss, ist eine solche negative Prognose gerechtfertigt. Dabei steht die Ungewissheit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit einer krankheitsbedingten dauernden Leistungsunfähigkeit dann gleich, wenn in den nächsten 24 Monaten mit einer anderen Prognose nicht gerechnet werden kann. In diesem Fall kann in der Regel ohne weiteres von einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen - zweite Stufe - ausgegangen werden. Der Arbeitgeber ist dann auf unabsehbare Zeit gehindert, sein Direktionsrecht ausüben zu können und die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers abzurufen. Eine ordnungsgemäße Planung des Einsatzes des Arbeitnehmers kann nicht mehr erfolgen. Es bestehen deshalb keine schutzwürdigen Interessen des Arbeitnehmers mehr an der Aufrechterhaltung seines Arbeitsverhältnisses. Dies gilt auch im Hinblick auf die notwendige Interessenabwägung (dritte Stufe). Sie ist zwar auch bei einer Kündigung wegen dauernder oder auf nicht absehbare Zeit bestehender Arbeitsunfähigkeit erforderlich, kann aber nur bei Vorliegen einer besonderen Schutzbedürftigkeit des Arbeitnehmers zu dem Ergebnis führen, dass der Arbeitgeber trotz der erheblichen Störung des Arbeitsverhältnisses dessen Fortsetzung billigerweise weiter hinnehmen muss (BAG 18. Januar 2007 - 2 AZR 759/05 - Rn. 23, [juris]).

2. Nach diesen Grundsätzen ist im Streitfall ein personenbedingter Kündigungsgrund
gegeben.

a) Das Arbeitsgericht hat zutreffend eine negative Gesundheitsprognose bezogen auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung festgestellt.

Unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Berufungskammer (§ 286 ZPO) fest, dass im maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung die Prognose begründet war, dass die bereits seit dem 20. April 2009 durchgehend arbeitsunfähig erkrankte Klägerin auch in Zukunft jedenfalls auf nicht absehbare Zeit arbeitsunfähig erkrankt sein wird, d.h. zumindest in den nächsten 24 Monaten nach Ausspruch der Kündigung mit einer anderen Prognose nicht gerechnet werden kann.

Im Zeitpunkt der Kündigung vom 28. Juli 2010 war die Klägerin bereits seit mehr als 15 Monaten durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Die Klägerin hat in ihrer Berufungsbegründung selbst vorgetragen, dass sie ihre bisherige Tätigkeit an der Verpackungsmaschine nicht mehr uneingeschränkt wird ausüben können, weil sie insbesondere nicht mehr in der Lage sein werde, Pakete, die schwerer als 10 Kilo seien, anzuheben oder zu stapeln. Der Zeuge G. hat bei seiner Vernehmung vor dem Arbeitsgericht glaubhaft bestätigt, dass die am Arbeitsplatz "Verpackungsmaschine" zu hebenden Aluminiumkisten ca. 10 bis 14 kg schwer seien und es sich um eine stehende Tätigkeit handele. Bei einer vollschichtigen Tätigkeit von acht Stunden seien arbeitstäglich ca. 25 Kisten zu heben. Nach den Bekundungen des Zeugen G. sind die Arbeitsabläufe bei den Arbeitsplätzen "Verpackungsmaschine" und "Endverpackung" im wesentlichen gleich. Davon ist auch die Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 10. Januar 2011 ausgegangen. In Bezug auf die sog. "Handarbeitsplätze" hat der Zeuge G. bekundet, dass an diesem Arbeitsplatz ca. 85 % aller Bauteile mit dem Lösungsmittel konfektioniert würden, welches auch an dem Arbeitsplatz der Konfektionierung von Absaugschläuchen verwandt werde. Die Klägerin hat im Termin vom 3. Februar 2011 vor dem Arbeitsgericht nach den Bekundungen des Zeugen G. zum Arbeitsplatz "Montage von Absaugschläuchen" selbst erklärt, dass sie nach dem von ihr vorgelegten Allergiepass wegen der verwandten Klebemittel auf diesem Arbeitsplatz nicht eingesetzt werden könne. Im Hinblick darauf hat das Arbeitsgericht angenommen, dass im Bereich der sog. Handarbeitsplätze zu 85 % Bauteile zu konfektionieren seien, bei denen das Lösungsmittel verwandt werde, welches auch am Arbeitsplatz der Konfektionierung von Absaugschläuchen eingesetzt werde, wogegen die Klägerin nach eigenem Vortrag wiederum allergisch reagiere. Diese Feststellung des Arbeitsgerichts hat die Klägerin in ihrer Berufungsbegründung nicht angegriffen.

Nach dem vom Arbeitsgericht eingeholten Sachverständigengutachten sind die zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze "Verpackungsmaschine, Handarbeitsplätze, Endverpackung" für die Klägerin aus arbeitsmedizinischer Sicht nur noch bedingt geeignet. Für Januar 2012 sei der Klägerin prospektiv allenfalls die Eignung für körperlich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zuzutrauen. Hierfür müssten allerdings die weiteren genannten Rahmenbedingungen erfüllt sein. Körperlich leichte Arbeit bedeute: Gewichte bis 6 kg, maximal 60 Minuten pro Schicht heben oder 30 Minuten pro Schicht tragen. Somit wäre ein kontinuierlicher Einsatz mit einer wirtschaftlich verwertbaren Arbeitsleistung an den genannten Arbeitsplätzen bei der Beklagten nicht möglich. In Anbetracht der dargestellten Prognose des Grundleidens könne man der Klägerin nur nahelegen, die Weitergewährung der Rente zu beantragen.

Die Berufungskammer schließt sich der Würdigung des Arbeitsgerichts an, wonach der Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung die weitere Erbringung der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung nicht möglich ist bzw. jedenfalls in absehbarer Zeit nicht mit einer anderen Prognose gerechnet werden kann. Die diagnostizierte Brustkrebserkrankung und die deswegen im April 2010 erfolgte Operation mit ihren gesundheitlichen Folgen sind bezogen auf den Zeitpunkt des Kündigungszugangs am 28. Juli 2010 als objektiv vorliegende Umstände zu berücksichtigen, auch wenn diese der Beklagten bei Ausspruch der Kündigung nicht bekannt waren. Nach den Ausführungen des Sachverständigen und den vom Zeugen G. glaubhaft dargestellten Belastungen an den in Betracht kommenden Arbeitsplätzen ist ein kontinuierlicher Einsatz der Klägerin mit einer wirtschaftlich verwertbaren Arbeitsleistung im Betrieb der Beklagten nicht möglich.

b) Die darauf beruhende erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen lässt sich nicht durch andere leidensgerechte Beschäftigungsmöglichkeiten vermeiden. Im Streitfall ist gemäß der Annahme des Arbeitsgerichts davon auszugehen, dass auch ein betriebliches Eingliederungsmanagement nicht zu einer Beschäftigungsmöglichkeit für die Klägerin geführt hätte.

aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG 12. Juli 2007 - 2 AZR 716/06 - NZA 2008, 173; 23. April 2008 - 2 AZR 1012/06 - NZA-RR 2008, 515) ist die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 84 Abs. 2 SGB IX keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung. Vielmehr stellt die Regelung des § 84 Abs. 2 SGB IX eine Konkretisierung des dem gesamten Kündigungsschutzrecht innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar. Dabei ist das betriebliche Eingliederungsmanagement an sich zwar kein milderes Mittel. Hierdurch können aber solche milderen Mittel, z.B. die Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder eine Weiterbeschäftigung zu geänderten Arbeitsbedingungen auf einem anderen - ggf. durch Umsetzungen "freizumachenden" - Arbeitsplatz erkannt und entwickelt werden. Hat der Arbeitgeber kein betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt, darf er sich durch seine dem Gesetz widersprechende Untätigkeit keine darlegungs- und beweisrechtlichen Vorteile verschaffen. In diesem Fall darf er sich nicht darauf beschränken, pauschal vorzutragen, er kenne keine alternativen Einsatzmöglichkeiten für den erkrankten Arbeitnehmer bzw. es gebe keine "freien Arbeitsplätze", die der erkrankte Arbeitnehmer aufgrund seiner Erkrankung noch ausfüllen könne. Es bedarf vielmehr eines umfassenderen konkreten Sachvortrags des Arbeitgebers zu einem nicht mehr möglichen Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisher innegehabten Arbeitsplatz einerseits und warum andererseits eine leidensgerechte Anpassung und Veränderung ausgeschlossen ist oder der Arbeitnehmer nicht auf einem (alternativen) anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit eingesetzt werden könne. Allerdings kann eine Kündigung nicht allein deshalb wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip als sozial ungerechtfertigt qualifiziert werden, weil das betriebliche Eingliederungsmanagement nicht durchgeführt wurde. Es müssen vielmehr auch bei gehöriger Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements überhaupt Möglichkeiten einer alternativen (Weiter-)Beschäftigung bestanden haben, die eine Kündigung vermieden hätten. Im Umkehrschluss folgt daraus weiter, dass ein unterlassenes betriebliches Eingliederungsmanagement einer Kündigung dann nicht entgegensteht, wenn sie auch durch das betriebliche Eingliederungsmanagement nicht hätte vermieden werden können (BAG 23. April 2008 - 2 AZR 1012/06 - Rn. 26 und 27, NRA-RR 2008, 515).

bb) Das Arbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass der substantiierte Vortrag der Beklagten den vorstehenden Anforderungen genügt.

Die Beklagte hat in Bezug auf alle Arbeitsplätze, die im Hinblick auf die Qualifikation der Klägerin überhaupt in Betracht kommen, im Einzelnen dargelegt, welche Belastungen jeweils bestehen und aus welchen Gründen die Klägerin an dem betreffenden Arbeitsplatz nicht eingesetzt werden kann. Das Arbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass die von der Beklagten dargestellten Belastungen nach den Bekundungen des Zeugen G. belegt sind. Hiergegen hat auch die Klägerin in ihrer Berufungsbegründung keine Einwände mehr erhoben. Gemäß den obigen Ausführungen steht zur Überzeugung der Berufungskammer fest, dass zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs die negative Prognose begründet war, dass die Klägerin jedenfalls auf unabsehbare Zeit ihre vertraglich geschuldete Arbeitsleistung als Produktionshelferin aus gesundheitlichen Gründen an den in Betracht kommenden Arbeitsplätzen im Betrieb der Beklagten nicht mehr erbringen kann. Die Beklagte hat vorgetragen, dass auch die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements überflüssig gewesen wäre, weil dies aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin unter keinen Umständen zu einem positiven Ergebnis geführt hätte. Die Klägerin hat in ihrer Berufungsbegründung gerügt, dass die Beklagte nicht vorgetragen habe, ob der Minderung ihrer Leistungsfähigkeit ab dem 1. Januar 2012 durch organisatorische Maßnahmen (Änderung des Ablaufs, Umgestaltung des Arbeitsplatzes, Umverteilung der Aufgaben) begegnet werden könne. In Bezug auf ihre bisherige Tätigkeit an der Verpackungsmaschine hat sie darauf verwiesen, dass sie zwar nicht zur Anhebung oder Stapelung von Paketen mit einem Gewicht von mehr als 10 kg in der Lage sein werde, dies aber auch nicht notwendig sei, da ausreichend andere Mitarbeiter vorhanden seien. Die Beklagte hat darauf verwiesen, dass ein derartiger Einsatz der Klägerin mit Einschränkungen an der Verpackungsmaschine nicht realisierbar sei. Der Zeuge G. hat bei seiner Vernehmung bekundet, dass zwar der Arbeitsablauf automatisiert werden könnte, dann aber aus seiner Sicht der Arbeitsplatz ganz entfiele. An der Verpackungsmaschine wird im Betrieb der Beklagten, die insgesamt lediglich 16 bis 18 Arbeitnehmer beschäftigt, jeweils nur eine Person eingesetzt. Falls alle an der Verpackungsmaschine anfallenden Tätigkeiten, die mit den vom Zeugen G. dargestellten körperlichen Belastungen verbunden sind, jeweils von einem anderen Mitarbeiter übernommen werden müssten, der dann an seinem Arbeitsplatz ausfallen würde, führt dies jedenfalls zu keiner wirtschaftlich noch verwertbaren Arbeitsleistung der Klägerin, die der Beklagten zugemutet werden kann. Soweit der Arbeitsablauf dahingehend verändert werden kann, dass die Aluminiumkisten z.B. nur noch jeweils zur Hälfte befüllt werden, hätte dies eine entsprechende Erhöhung der Anzahl der Hebevorgänge von ca. 25 Kisten auf ca. 50 Kisten pro Arbeitstag zur Folge, was ebenfalls zu keiner körperlich leichteren Arbeit führen würde, die von der Klägerin nach Maßgabe des Sachverständigengutachtens noch ausgeführt werden kann. Im Übrigen ist weder vorgetragen noch sonstwie ersichtlich, auf welche Weise eine leidensgerechte Weiterbeschäftigung der Klägerin ermöglicht werden könnte. Mithin ist im Streitfall davon auszugehen, dass sich auch bei Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements keine leidensgerechte Beschäftigungsmöglichkeit für die Klägerin ergeben hätte.

c) Auch die Interessenabwägung führt nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.

Die Berufungskammer schließt sich der vom Arbeitsgericht vorgenommenen Interessenabwägung an, auf die Bezug genommen wird. Bei einer Kündigung wegen dauernder bzw. auf nicht absehbarer Zeit bestehender Arbeitsunfähigkeit ist in aller Regel davon auszugehen, dass der Arbeitgeber eine weitere erhebliche Störung des Arbeitsverhältnisses auf nicht absehbare Zeit billigerweise nicht mehr hinzunehmen braucht (BAG 19. April 2007 - 2 AZR 239/06 - Rn. 36, NZA 2007, 1041; 18. Januar 2007 - 2 AZR 759/05 - Rn. 33, [juris]). Selbst wenn man zugunsten der Klägerin neben ihrer Betriebszugehörigkeit seit 6. März 2001, ihrem Lebensalter (geb. 11. Februar 1953) und ihrer Unterhaltsverpflichtung (verheiratet) auch ihre Schwerbehinderteneigenschaft berücksichtigt, ist es der Beklagten gleichwohl aufgrund der auf nicht absehbare Zeit bestehenden Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nicht zumutbar, das Arbeitsverhältnis dauerhaft fortzusetzen. Das Arbeitsgericht hat zutreffend berücksichtigt, dass die Beklagte bereits im Jahr 2005 und ab 2008 nicht unerhebliche Fehlzeiten der Klägerin hingenommen hat, die Erkrankungen auch nicht auf betrieblichen Ursachen beruhen und es sich bei der Beklagten um einen kleineren Produktionsbetrieb im medizinischen Bereich mit lediglich 16 bis 18 Arbeitnehmern handelt. Das betriebliche Interesse der Beklagten an einer ordnungsgemäßen Personalplanung wird durch die völlige Ungewissheit, ob es in absehbarer Zeit überhaupt zu einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der bei Ausspruch der Kündigung bereits seit 15 Monaten durchgehend arbeitsunfähig erkrankten Klägerin kommen kann, ganz erheblich beeinträchtigt. In Anbetracht dieser Umstände ist das Arbeitsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die Interessenabwägung zugunsten der Beklagten ausfällt.

Mithin hat das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zum 31. Oktober 2010 sein Ende gefunden. Die Beklagte ist daher auch nicht zu der von der Klägerin begehrten Weiterbeschäftigung verpflichtet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Eine Zulassung der Revision war nicht veranlasst, weil hierfür die gesetzlichen Voraussetzungen (§ 72 Abs. 2 ArbGG) nicht vorliegen.



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